Vorlage an den EuGH zur Berücksichtigung von Kindeswohl und familiärer Bindungen bei Erlass einer Rückkehrentscheidung:
Es ist zweifelhaft, ob die deutsche Rechtslage, wonach eine Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebungsandrohung ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungshindernisse aus familiären Gründen ergeht und diese in einem gesonderten Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen sind, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Denn Art. 5 Bst. a, b Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) bestimmt, dass die Mitgliedstaaten in gebührender Weise das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:
Ist Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bestandskraft setzt, ausnahmslos entgegensteht, wenn aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil in ein in Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG bezeichnetes Land rückgeführt werden kann und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann, oder genügt es, dass das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG auf der Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch eine Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen sind? [...]
22 2.2 Das vorlegende Gericht hält für klärungsbedürftig, ob die vorbeschriebene nationale Rechtslage dem aus Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG folgenden Gebot, das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Rückkehrverfahren gebührend zu berücksichtigen, hinreichend gerecht wird.
23 a) Der Gerichtshof hat mehrfach betont, dass die familiären Bindungen und das Wohl des Kindes vor Erlass einer Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen sind: Art. 5 RL 2008/115/EG bezweckt unter anderem die Wahrung der in Art. 24 GRC verankerten Grundrechte minderjähriger Drittstaatsangehöriger im Rahmen des durch die Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens. Im Lichte dieser Zwecksetzung verbietet sich eine enge Auslegung der Richtlinienbestimmung (EuGH, Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 [ECLI:EU:C:2021:197], M. A. - Rn. 35).
24 Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen sind in sämtlichen Stadien des Verfahrens gebührend zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 [ECLI:EU:C:2021:9], TQ - Rn. 54). Die zuständige nationale Behörde hat daher das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen auch dann gebührend zu berücksichtigen, wenn sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen beabsichtigt [...]. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG verwehrt es einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Wohles des Kindes und der familiären Bindungen zu berücksichtigen, die der Drittstaatsangehörige geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 [ECLI:EU:C:2018:308], K. A. u. a. - Rn. 104). Der Mitgliedstaat ist daher aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG i. V. m. Art. 24 Abs. 2 GRC gehalten, vor Erlass einer Rückkehrentscheidung eine Beurteilung der Situation eines von der Entscheidung betroffenen Minderjährigen vorzunehmen (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19, TQ - Rn. 60). [...]
26 b) Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs ist zweifelhaft, ob die deutsche Rechtslage, nach der eine Rückkehrentscheidung ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungsverbote ergeht und diese in einem gesonderten Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen sind, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
27 Teile der nationalen Rechtsprechung bejahen diese Vereinbarkeit, weil dem Gebot zur gebührenden Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Bindungen bei Erlass der Rückkehrentscheidung dadurch hinreichend Rechnung getragen werde, dass gesetzlich geregelt ist und damit bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Rückkehrentscheidung abstrakt-generell feststeht, dass eine Abschiebung nicht erfolgt, sofern und solange diese mit Blick auf eine mit Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 GRC sowie Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht vereinbare Trennung von Familienmitgliedern rechtlich unmöglich ist [...].
28 Aktuelle Entscheidungen des Gerichtshofs (vor allem die vorzitierten Urteile vom 14. Januar 2021 - C-441/19, TQ - und vom 11. März 2021 - C-112/20, M. A. -) verstärken indes die Zweifel an der Unionsrechtskonformität von § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Danach erscheint es denkbar, dass Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b RL 2008/115/EG zwingend zu einer konkret-individuellen Untersuchung des Wohles des Kindes und der familiären Bindungen vor Erlass einer Rückkehrentscheidung verpflichtet. [...]