VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2021 - 4 K 2610/17.A - asyl.net: M31322
https://www.asyl.net/rsdb/m31322
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für homosexuelle Person aus Palästinensische Gebieten:

"1. Offen homosexuell lebende Männer droht im Westjordanland eine flüchtlingsrelevante Verfolgung (Rn. 25).

2. Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative im Gaza-Streifen oder in Israel (Rn. 41)."

(Amtliche Leitsätze; siehe auch: VG Hamburg, Urteil vom 06.12.2022 - 14 A 2143/20 - asyl.net: M31319)

Schlagwörter: Palästinensische Gebiete, homosexuell, Westjordanland, interner Schutz, Israel, Gaza-Streifen, Palästinenser, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 1, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

24 2. Unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in die Palästinensischen Autonomiegebiete – Westjordanland – flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen drohen. [...]

26 Die palästinensische Gesellschaft ist in vielfacher Hinsicht konservativ und traditionell eingestellt und steht Homosexualität grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die negativen Reaktionen gehen von sozialer Ausgrenzung bis hin zu körperlicher Gewalt. Palästinensische politische Organisationen vermeiden das Thema LGBTQI-Rechte. [...]

27 Zwar ist gleichgeschlechtlicher Sex zwischen Männern im Westjordanland nicht mehr explizit strafbar. Aber nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts werden homosexuelle Handlungen in der Regel als "Erregung öffentlicher Ärgernisse", Verletzung der allgemeinen Ethik und der öffentlichen Moralnormen unter Art. 320 des jordanischen Strafgesetzes von 1960 subsumiert, für den gemäß einer dem Auswärtigen Amt vorliegenden Fassung des jordanischen Strafgesetzes eine Strafe von maximal sechs Monaten oder 50 Jordanischen Dinar vorgesehen ist. Aber es bestehen andere vage Straftatbestände ("unzüchtige Handlungen", "Taten gegen die Natur", "widernatürliche Akte") mit unklaren Tatbestandsmerkmalen, unter die auch homosexuelle Handlungen subsumiert werden. Im Westjordanland droht hierfür im Fall einer Verurteilung eine Haftstrafe (Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Chemnitz, 18.02.2021, GZ: 508-516.80/54041; BT-Drucksache 19/9077 vom 29.03.2019: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Kai Gehring, Sven Lehmann, Ulle Schauws, weiterer Abgeordnete und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/3061 – Internationale Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgendern und Intersexuellen).

28 Es findet nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes keine systemseitige Verfolgung in den palästinensischen Gebieten statt. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch Fälle bekannt, in denen homosexuelle Palästinenser und Palästinenserinnen schikaniert, festgenommen und gefoltert wurden. Einige Studierende wurden 2019 wegen Äußerung ihrer homosexuellen Identität bzw. Neigungen festgenommen, zwei von ihnen wurde der Zutritt zur Universität verboten. [...]

38 Nach dem Gesamteindruck bestehen für das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers in den Kernaussagen zu seiner Homosexualität. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger diesbezüglich die Wahrheit gesagt hat. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in das Westjordanland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Repressionen von Vertretern des  Staates bzw. von Privatpersonen zu rechnen hätte, sofern er seine Homosexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger nicht zuzumuten, angesichts der im Westjordanland herrschenden Verhältnisse in sein Heimatland zurückzukehren.

39 Die dem Kläger aufgrund seiner Homosexualität bei einer Rückkehr drohende Verfolgung hat die Qualität einer relevanten Verfolgung i.S.v. §§ 3ff. AsylG. Die drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen an Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG an, konkret an § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle bilden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer deutlichen abgegrenzten sexuellen Identität eine bestimmte soziale Gruppe (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 – NVwZ 2014, 132). Auch der Umstand, dass der Kläger in der Lage wäre, seine Homosexualität nur im Privaten zu leben, wie er es vor seiner Ausreise getan hat, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich ausgeführt, dass von einem Asylbewerber nicht erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. [...]

40 Sowohl der Staat ist möglicher Verfolgungsakteur gemäß § 3c Nr. 1 AsylG als auch Privatpersonen gemäß § 3c Nr. 3 AsylG. [...]

41 Eine innerstaatliche Fluchtalternative i.S.v. § 3e Abs. 1 AsylG ist nicht gegeben. Die oben dargestellte Situation für Homosexuelle gilt landesweit, so dass es keine interne Schutzmöglichkeit gibt. So ist es dem Kläger nicht möglich, sich im Gaza-Streifen niederzulassen. [...] Ein Palästinenser aus Ramallah kann mit einer von der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Personalausweis-ID keinen legalen Aufenthalt in Israel mit Zugang zum israelischen, öffentlichen Sozialwesen begründen ((Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Chemnitz, 30.08.2019, GZ: 508-516.80/53439). Eine Rückkehr in sein Heimatland ist dem Kläger unter diesem Vorzeichen nicht zumutbar. [...]