VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 06.12.2022 - 14 A 2143/20 - asyl.net: M31319
https://www.asyl.net/rsdb/m31319
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für homosexuellen Mann aus Palästinensischen Gebieten:

1. Die palästinensische Gesellschaft steht Homosexualität grundsätzlich ablehnend gegenüber, und es kommt deshalb zu sozialer Ausgrenzung und körperlicher Gewalt.

2. Gleichgeschlechtlicher Sex ist zwar nicht explizit strafbar, homosexuelle Handlungen werden aber u.A. als "Erregung öffentlicher Ärgernisse" oder "Verletzung der allgemeinen Ethik" verfolgt.

3. Offen homosexuell lebenden Männern drohen im Westjordanland sowohl durch Privatpersonen als auch durch staatliche Stellen erhebliche Verfolgungshandlungen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2021 - 4 K 2610/17.A - asyl.net: M31322)

Schlagwörter: homosexuell, Palästinensische Gebiete, Palästinenser, LSBTI, schwul, Westjordanland, Strafverfahren, Vorverfolgung,
Normen: AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

26 Gemessen an diesen Vorgaben liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Falle des Klägers vor. Der Kläger wurde im Westjordanland aufgrund seiner sexuellen Ausrichtung bereits Opfer von flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen. Zugleich ist davon auszugehen, dass ihm im Fall einer Rückkehr weitere flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungsmaßnahmen beachtlich drohten.

27 a) Der Kläger hat bereits in der Anhörung bei der Beklagten detaillierte und stimmige Angaben zu seiner sexuellen Ausrichtung gemacht, so dass auch die Beklagte offenbar keinen Zweifel an seiner Homosexualität hat, zumal sie dies dem Bescheid vom 30. März 2020 zugrunde legte. [...]

28 Der Kläger hat ferner stimmige und widerspruchsfreie Angaben zu seinen Erlebnissen im Westjordanland gemacht. Demnach wurde seine Homosexualität während seines Dienstes bei der Palästinensischen Präsidentengarde bekannt. Er schilderte nachvollziehbar, wie seine Kollegen bereits Verdacht geschöpft hatten, weil er sich nicht an Gesprächen über Frauen beteiligte. Ebenso beschrieb er widerspruchsfrei, dass sich ein Kollege, wohl unter dem Vorwand telefonieren zu wollen, sein Mobiltelefon lieh, dieses durchsuchte und dabei homosexuell-pornografische Bilddateien fand. Daraufhin wurde der Kläger inhaftiert und zu einem Geständnis über seine sexuelle Ausrichtung gezwungen. Unmittelbar darauf wurde er aus dem Militär entlassen und von dem Großteil der Familie, Verwandten und Bekannten sozial geächtet. Wenig später wurde er von der Polizei zwei Tage inhaftiert und misshandelt, indem er geschlagen, erniedrigt und mit kaltem Wasser übergossen wurde. Er schilderte eindrücklich, wie er auf der Straße gemieden und beschimpft wurde, keine Anstellung mehr erlangen konnte und teilweise nicht mehr genug Geld für Essen hatte. In der Anhörung bei der Beklagten berichtete er glaubhaft von einem Suizidversuch. Sein Versuch, als Homosexueller Asyl in Israel zu erhalten, scheiterte. Wiederholt schilderte er eindrücklich, in was für einer ausweglosen Situation er sich befand, so dass er schließlich beschloss, das Land zu verlassen. [...]

30 b) Die vom Kläger geschilderten Erlebnisse decken sich mit der Erkenntnislage zur Situation von Homosexuellen im Westjordanland. Das Gericht macht sich insoweit die folgenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Chemnitz (Urt. v. 18.5.2021, 4 K 2610/17.A, juris Rn. 26 bis 28) zu eigen:

31 "Die palästinensische Gesellschaft ist in vielfacher Hinsicht konservativ und traditionell eingestellt und steht Homosexualität grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die negativen Reaktionen gehen von sozialer Ausgrenzung bis hin zu körperlicher Gewalt. [...]

32 Zwar ist gleichgeschlechtlicher Sex zwischen Männern im Westjordanland nicht mehr explizit strafbar. Aber nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts werden homosexuelle Handlungen in der Regel als "Erregung öffentlicher Ärgernisse", Verletzung der allgemeinen Ethik und der öffentlichen Moralnormen unter Art. 320 des jordanischen Strafgesetzes von 1960 subsumiert, für den gemäß einer dem Auswärtigen Amt vorliegenden Fassung des jordanischen Strafgesetzes eine Strafe von maximal sechs Monaten oder 50 Jordanischen Dinar vorgesehen ist. Aber es bestehen andere vage Straftatbestände ("unzüchtige Handlungen", "Taten gegen die Natur", "widernatürliche Akte") mit unklaren Tatbestandsmerkmalen, unter die auch homosexuelle Handlungen subsumiert werden. Im Westjordanland droht hierfür im Fall einer Verurteilung eine Haftstrafe [...].

33 Es findet nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes keine systemseitige Verfolgung in den palästinensischen Gebieten statt. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch Fälle bekannt, in denen homosexuelle Palästinenser und Palästinenserinnen schikaniert, festgenommen und gefoltert wurden. [...]"

34 Die für Homosexuelle bedrohliche Lage im Westjordanland wird durch einen aktuellen Fall veranschaulicht: Demnach wurde im Oktober 2022 ein homosexueller Mann palästinensischer Volkszugehörigkeit offenbar wegen seiner sexuellen Ausrichtung im Westjordanland ermordet (vgl. www.spiegel.de/ausland/israel-westjordanland-mann-offenbar-wegen-sexueller-orientierungenthauptet-a-5ce77e26-4fa7-4b68-a125-0bed00d5cb0d).

35 Offen homosexuell lebenden Männern – wie dem Kläger – drohen demnach sowohl durch Privatpersonen aus der Bevölkerung als auch durch staatliche Stellen erhebliche Verfolgungshandlungen im Westjordanland (vgl. auch VG Chemnitz, Urt. v. 18.5.2021, 4 K 2610/17.A, juris Ls. 1).

36 c) Der Kläger kann auch nicht auf einen internen Schutz gemäß § 3e AsylG verwiesen werden, da die Verfolgungsgefahr im gesamten Westjordanland besteht. Eine Ausreise nach Gaza bzw. Israel (inklusive der von Israel verwalteten Teile des Westjordanlands) ist ohne eine Erlaubnis Israels nicht möglich und derartige Erlaubnisse werden nur in seltenen Ausnahmefällen erteilt; davon abgesehen gestaltet sich die Lage für Homosexuelle im Gazastreifen ebenso schlecht. [...]