OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14.12.2022 - 2 M 93/22 - asyl.net: M31292
https://www.asyl.net/rsdb/m31292
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz für anerkannten Flüchtling gegen Ausweisung wegen einer schweren Straftat:

1. Es spricht manches dafür, dass der besondere Ausweisungsschutz für Personen mit Flüchtlingsanerkennung gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG so lange zu beachten ist, bis ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung rechtskräftig wird. Demnach entfiele der besondere Ausweisungsschutz bei einer Klage nicht bereits dann, wenn der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung vollziehbar ist, weil eine Klage dagegen keine aufschiebende Wirkung hat, sondern erst, wenn gerichtlich über den Widerruf entschieden worden ist. Diese Frage kann hier jedoch offen bleiben, da die Voraussetzung für die Ausweisung von Personen mit Flüchtlingsanerkennung gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG vorliegen.

2. Eine schwere Straftat gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG liegt vor, wenn die Straftat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls objektiv und subjektiv schwerwiegend war. Sowohl das bewaffnete, unerlaubte Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge als auch eine gefährliche Körperverletzung sind demnach schwere Straftaten.

3. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse hier, obwohl der Betroffene im Alter von sieben Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist und seit 20 Jahren seinen Lebensmittelpunkt hier hat, sein Aufenthalt durchgängig rechtmäßig war, er seit knapp zwölf Jahren im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist und über sichere Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, er einen Realschulabschluss erlangt hat, im vergangenen Jahr eine Berufsausbildung begonnen hat, sich seit 2018 in einer Partnerschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen befindet, mit dieser zusammenlebt und mit ihr verheiratet ist und sich seine gesamte Kernfamilie im Bundesgebiet aufhält. Die Integration in die russische Gesellschaft ist dem Betroffenen nach zwanzig Jahren in der Bundesrepublik und der Ausreise im Alter von sieben Jahren im Übrigen auch deshalb noch möglich, weil er zumindest noch ein wenig Russisch spricht. Der Betroffene kann sich im Rahmen der Interessenabwägung deshalb nicht als sog. faktischer Inländer auf Art. 8 EMRK berufen, sondern lediglich auf Art. 2 Abs. 1 GG ("Allgemeine Handlungsfreiheit").

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Bremen, Beschluss vom 09.12.2020 - 2 B 240/20 - asyl.net: M29196)

Schlagwörter: schwere Straftat, Straftat, Flüchtlingseigenschaft, Widerruf, Ausweisung, vorläufiger Rechtsschutz, Rechtskraft, faktischer Inländer, Bleibeinteresse, Ausweisungsgrund, besonderer Ausweisungsschutz,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 3a, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1, AsylG § 75 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 55 Abs. 1
Auszüge:

[...]

13 Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung. [...]

20 3. Der Antragsteller wendet gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ein, die Ausweisung hätte die besonderen Voraussetzungen, die gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG an die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings zu stellen sind, beachten müssen. [...]

21 Auch hiermit kann der Antragsteller nicht durchdringen. Zwar spricht manches dafür, dass - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - die Anforderungen des besonderen Ausweisungsschutzes für anerkannte Flüchtlinge gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG zu beachten sind, weil über die Klage des Antragstellers gegen den Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 21. Januar 2021 im Hauptsacheverfahren (3 A 39/21 MD) noch nicht entschieden ist. Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung entfällt der erhöhte Ausweisungsschutz gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG nicht schon dann, wenn die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gegen einen auf § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützten Widerruf der Flüchtlingsanerkennung aufgrund der Regelung in § 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG entfällt (Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 53 AufenthG Rn. 95). [...] Auch das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen erkennt, dass die Auffassung, wonach sich der Betroffene auch dann nicht mehr auf den erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3a AufenthG berufen kann, wenn der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung noch nicht bestandskräftig ist, die Klage gegen den Widerruf aber keine aufschiebende Wirkung hat, nur dann keinen unionsrechtlichen Bedenken begegnet, wenn die Klage gegen den Widerruf erstinstanzlich schon abgewiesen wurde (OVG Bremen, Beschluss vom 9. Dezember 2020 - 2 B 240/20 - juris Rn. 17).

22 Der Senat kann dies im Ergebnis offenlassen, denn die Anforderungen des besonderen Ausweisungsschutzes für anerkannte Flüchtlinge gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG liegen hier vor. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr anzusehen ist oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

23 Der Gefahrenmaßstab nach § 53 Abs. 3a Alt. 3 AufenthG ist erfüllt. Der Antragsteller stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist.

24 Der Begriff der "schweren Straftat" ist im AufenthG nicht definiert. Aufgrund des Wortlauts der Vorschrift und der Absicht des Gesetzgebers, die Schwellen des Ausweisungsschutzes für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge auf den Kern der europa- und völkerrechtlichen Vorgaben zurückzuführen (BTDrs. 19/10047, S. 34), ergibt sich, dass § 53 Abs. 3a Alt. 3 AufenthG im Lichte von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) auszulegen ist, wonach zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung eine Ausweisung gestatten [...]. Von Bedeutung ist insoweit, dass § 53 Abs. 3a AufenthG - anders als Art. 14 Abs. 4 und Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU - nicht von einer besonders schweren Straftat spricht, sondern nur von einer schweren Straftat und, anders als § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, keine verhängte Mindeststrafe voraussetzt. Eine Verurteilung wegen einer schweren Straftat im Sinne von § 53 Abs. 3a Alt. 3 AufenthG wird dabei nicht immer schon dann anzunehmen sein, wenn eine Bestrafung vorliegt, die ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG begründet (so aber Hailbronner, Ausländerrecht, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 217). [...] Maßgebend ist, ob die Straftat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls objektiv und subjektiv schwerwiegend gewesen ist (VGH BW, Urteil vom 15. April 2021 - 12 S 2505/20 - a.a.O. Rn. 121; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 99).

25 Im vorliegenden Fall handelt es sich bei den vom Antragsteller zuletzt begangenen Straftaten des bewaffneten unerlaubten Sich-Verschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und der gefährlichen Körperverletzung um schwere Straftaten i.S.d. § 53 Abs. 3a AufenthG. [...]

28 Der Antragsteller ist auch eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 53 Abs. 3a AufenthG. Wie sich aus dem Wortlaut ("weil") ergibt, bedarf es einer Verbindung zwischen der konkreten schweren Straftat, für die der Ausländer verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht (Beschluss des Senats vom 27. Januar 2021 - 2 M 101/20 - juris Rn. 30; VGH BW, Urteil vom 15. April 2021 - 12 S 2505/20 - a.a.O. Rn. 123; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 99). Mit der Gefahr für die Allgemeinheit sind die Fälle umschrieben, die von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU unter der Variante der öffentlichen Ordnung erfasst werden (VGH BW, Urteil vom 15. April 2021 - 12 S 2505/20 - a.a.O. Rn. 121).

29 Im vorliegenden Fall besteht die hohe Gefahr, dass der Antragsteller erneut mit einem Aggressionsdelikt - etwa in Form einer gefährlichen Körperverletzung - straffällig wird. Insoweit hat das Verwaltungsgericht - wie sogleich näher auszuführen ist - zu Recht eine Wiederholungsgefahr angenommen. [...]

33 5. Der Antragsteller wendet gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts weiter ein, die Abwägung zwischen den Ausweisungsinteressen und den Bleibeinteressen sei fehlerhaft. [...]

34 Auch hiermit kann der Antragsteller nicht durchdringen. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass bei der gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG vorzunehmenden Gesamtabwägung unter Berücksichtigung aller prägenden Umstände des Einzelfalls sowie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit das öffentliche Ausweisungsinteresses das Bleibeinteresse des Antragstellers überwiege. Im Lichte der Gesamtumstände erweise sich die Ausweisung des Antragstellers aus dem Bundesgebiet auch unter Berücksichtigung der Anforderungen von Art. 8 EMRK als verhältnismäßig. Zwar habe der 26 Jahre alte Antragsteller seit nunmehr zwei Jahrzehnten seinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik und den Großteil seines bisherigen Lebens im Bundesgebiet verbracht. Er sei schon im Juli 2003 gemeinsam mit seiner Kernfamilie in das Bundesgebiet eingereist, wobei sein Aufenthalt bis zum Erlass des streitigen Bescheides durchgängig rechtmäßig gewesen sei. Er sei seit knapp 12 Jahren in Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Zu seinen Gunsten sei auch zu berücksichtigen, dass er über sichere Kenntnisse der deutschen Sprache verfüge und im Jahr 2014 erfolgreich einen Realschulabschluss erlangt habe. Trotz dieser Umstände sei es ihm jedoch nicht gelungen, sich nachhaltig in die hiesigen Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse zu integrieren. [...] Eine hinreichende Integration in den Arbeitsmarkt folge auch nicht daraus, dass der Antragsteller ausweislich des zur Akte gereichten Ausbildungsvertrages zum 1. August 2022 eine Berufsausbildung zum ... begonnen habe, da er sich derzeit noch in der Probezeit befinde und die Ausbildung frühestens zum 31. Juli 2025 abschließen werde. Unter Berücksichtigung des bisherigen Lebenslaufs des Antragstellers könne auch im Lichte der Ausbildung nicht prognostiziert werden, dass er künftig einer geregelten, nachhaltigen Erwerbstätigkeit nachgehen werde. Im Hinblick auf die soziale Integration des Antragstellers im Bundesgebiet sei zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er sich schon seit Sommer 2018 in einer Partnerschaft mit einer deutschen Staatsangehörigkeit befinde, mit dieser seit seiner Haftentlassung im März 2020 gemeinsam in einer Mietwohnung lebe und diese nunmehr geheiratet habe. Außerdem hielten sich sowohl seine Mutter und Großmutter als auch seine Geschwister derzeit im Bundesgebiet auf. Damit lebe die Kernfamilie des Antragstellers ausnahmslos in der Bundesrepublik. Insoweit sei jedoch nicht erkennbar, dass die Ausweisung des Antragstellers schwerwiegende (wirtschaftliche) Folgen für diese Personen mit sich bringe. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass die Ehefrau oder die Familienangehörigen des Antragstellers auf die finanzielle Versorgung durch ihn angewiesen seien. [...] Insoweit sei davon auszugehen, dass eine Rückkehr in die Russische Föderation nach zwei Jahrzehnten Aufenthalt in der Bundesrepublik mit zahlreichen Herausforderungen und Umstellungen verbunden sein werde. Gleichwohl könne der Annahme des Antragstellers, er könne nicht mehr in die russische Gesellschaft integriert werden und habe dort keine Zukunftsperspektiven, nicht gefolgt werden. Vielmehr sei anzunehmen, dass ihm eine Integration in die dortigen Lebensverhältnisse möglich und die Entfremdung nur von vorübergehender Natur sei. Dafür spreche, dass der Antragsteller laut eigenen Angaben zumindest noch ein wenig russisch spreche und ihm demnach eine Verständigung in seinem Herkunftsstaat möglich sein werde. [...] Vor diesem Hintergrund und im Lichte des noch jungen Alters des Antragstellers sei davon auszugehen, dass ihm der Einstieg ins Berufsleben gelingen werde, er soziale Kontakte knüpfen und in der russischen Gesellschaft Fuß fassen könne. Soweit der Antragsteller sich demnach nicht auf Art. 8 EMRK berufen könne, da er nicht als faktischer Inländer anzusehen sei, könne er lediglich sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in die im Rahmen der Ausweisungsentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung einstellen. [...]

35 Der Senat stimmt der umfassenden und überzeugenden Würdigung des Verwaltungsgerichts zu. [...]