VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 22.12.2022 - Au 8 K 21.30651 - asyl.net: M31263
https://www.asyl.net/rsdb/m31263
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Afghanistan:

1. Aus der Straffälligkeit kann nicht geschlossen werden, dass der Kläger besonders durchsetzungsfähig und belastbar wäre. Selbst wenn man dies anders sehen würde, wäre es für sich genommen kein begünstigender Umstand, der den Kläger in die Lage versetzen würde, sein Existenzminimum zu sichern.

2. Im Rahmen der Gesamtschau (hier: langjährige Abwesenheit aus Afghanistan, keine erwartbare Unterstützung durch Familie, keine besonderen begünstigenden Umstände) steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger nach einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Situation geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, arbeitsfähig, Straftat, Straftatbestand, Mann, Existenzminimum, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht - unter Abänderung des Bescheids des Bundesamtes vom 19. Dezember 2016 - ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Afghanistans zu. [...]

bb) Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Afghanistan liegt im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) gemessen an den vorstehenden Grundsätzen im Fall des Klägers ein derartiger außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen seine Abschiebung zwingend sind.

(1) Das Gericht hat (auch noch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zum vorliegenden Klageverfahren) bis zu der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 7.6.2021 - 13a B 21.30342 - juris) entschieden, dass ein junger, gesunder und erwerbsfähiger Mann trotz der sich seit dem Beginn der Corona-Pandemie in Afghanistan weiter verschlechternden wirtschaftlichen und humanitären Lage in der Lage ist, ohne Verstoß gegen § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK sein Existenzminimum in Afghanistan zu erwirtschaften. Dies wurde auch für den Fall angenommen, dass die entsprechende Person nicht über nennenswertes Vermögen oder ein stützendes soziales, insbesondere familiäres Netzwerk im Heimatland verfügt.

Diese Rechtsprechung war, nachdem sich die wirtschaftliche Situation in Afghanistan in Bezug auf Ernährung, Unterkunft etc. seit dem Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 bereits in merklicher Weise verschlechtert hat (vgl. Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Juli 2020), in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor der Machtübernahme der Taliban insbesondere für die Fälle umstritten, in denen bei dem Schutzsuchenden keine besonderen begünstigenden Umstände, wie insbesondere ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk, nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte oder ausreichendes Vermögen, vorlagen (für diese Konstellation ein Abschiebungsverbotes bejahend: VGH BW, U.v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris; ein Abschiebungsverbot für junge, gesunde männliche Rückkehrer dann verneinend, wenn diese ausreichend belastbar und durchsetzungsfähig sind und/oder über familiäre bzw. soziale Beziehungen verfügen: OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 30.11.2020 - 13 A 11421/19 - juris; vgl. auch OVG Bremen, U.v. 24.11.2020 - 1 LB 351/20 - juris).

In der Folge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die seinerzeit ohnehin bereits äußerst angespannte wirtschaftliche Situation in Afghanistan weiter drastisch verschlechtert. Im Einzelnen hat dies etwa das Verwaltungsgericht Würzburg im Urteil vom 12. April 2022 (W 1 K 22.30254 - juris Rn. 23 ff.) in umfassender Weise dargelegt. Der Einzelrichter schließt sich dieser Darstellung im Hinblick auf die aktuelle Situation in Afghanistan, die im Einklang mit den aktuellen Erkenntnismitteln (EASO, Country of Origin, Information Report, Januar 2022; EuAA, Country Guidance: Afghanistan, April 2022; Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan vom 22.10.2021 - Lagebericht) steht, und von der im Übrigen auch die Beklagte ausgeht (vgl. den als Anlage 2 zum Schriftsatz der Bevollmächtigten des Klägers vom 12.12.2022 vorgelegten Bescheid des Bundesamts vom 3.11.2022, S. 4 ff. des Bescheids), in vollem Umfang an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen ausführlichen Darlegungen. [...]

(2) Besondere begünstigende Umstände, die diesen als besonders leistungs- und durchsetzungsfähig im vorgenannten Sinn erscheinen lassen, sind in der Person des Klägers nicht gegeben.

Zwar hat der Einzelrichter nach den Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2022 erhebliche Zweifel daran, dass die Kernfamilie des Klägers Afghanistan etwa Mitte 2022 in Richtung Iran verlassen hat. Soweit der Kläger insoweit ausgeführt hat, dass er von seiner Familie über die Ausreise informiert worden ist, ist dies vor dem Hintergrund, dass die Familie mit ihm aufgrund der außerehelichen Beziehung zu einer Deutschen und der Geburt der im Bundesgebiet lebenden Tochter "gebrochen" hat, für den Einzelrichter nicht glaubwürdig. Der Kläger konnte auch auf Nachfrage durch den Einzelrichter den Widerspruch insoweit nicht überzeugend auflösen.

Allerdings ist auch für den Fall, dass die Kernfamilie sich weiter in Afghanistan aufhält, nicht davon auszugehen, dass diese als erreichbares familiäres Netzwerk zur Verfügung steht, das ihn im Rückkehrfall in hinreichendem Maße unterstützen kann und wird. Insoweit ist es nach dem gesamten Vorbringen im behördlichen und gerichtlichen Verfahren für den Einzelrichter nachvollziehbar (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass eine irgendwie geartete Unterstützung durch die Familie aufgrund der persönlichen Situation des Klägers nicht in dem im o.g. Sinn dargestellten erforderlichen Maß zu erwarten ist.

Auch aus dem der strafrechtlichen Verurteilung vom 15. Oktober 2018, auf die sich das Bundesamt im Schriftsatz vom 8. Dezember 2022 bezieht, zugrundeliegenden Sachverhalt ergibt sich nichts Anderes. Für den Einzelrichter ist aus dem insoweit festgestellten strafrechtlichen Sachverhalt (vgl. Bl. 433 ff. der Behördenakte der Ausländerbehörde) keine - jedenfalls nicht per se - hohe individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Klägers abzuleiten. Die vorsätzliche Straftat des Klägers wurde zwar gegen ein Kind verübt, der mit der 13-jährlgen Geschädigten ausgeübte Geschlechtsverkehr war nach den tatrichterlichen Feststellungen des Strafgerichts aber "nicht unmaßgeblich auch von der Geschädigten" angestrebt (Amtsgericht - Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht - Kempten (Allgäu), U.v. 15.10.2018, S. 3; a.a.O.). Eine in besonderer Weise vorliegende Durchsetzungsfähigkeit kann aufgrund dieser Straftat nicht festgestellt werden.

Selbst wenn man dies anders sehen wollte, wäre eine solche nicht als begünstigender Umstand anzusehen, der (wie vorliegend) für sich allein ausreichen worden, dass der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums zu sichern.

Nach alledem wird der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage sein, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Es ist nicht anzunehmen, dass er sich auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag, zumal er sich bereits seit über sieben Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und somit mit den Arbeitsverhältnissen in Afghanistan, den Regeln, Sozial- und Verhaltenskodizes nicht mehr in einer Weise vertraut ist, dass er dem Misstrauen und den Vorurteilen der Bevölkerung, v.a. potentieller Arbeitgeber, etwas entgegenzusetzen hätte (vgl. VG München, U.v. 25.1.2022 - M 6 K 21.30037 - juris Rn. 22).

Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher festzustellen. [...]