Flüchtlingsanerkennung für einen syrischen Deserteur:
1. Eine Person, die sich im syrischen Bürgerkrieg aufgrund einer individuellen Entscheidung dem Kriegsdienst durch Desertion entzieht und deshalb wenigstens mit Freiheitsentzug bestraft wird, wird gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG flüchtlingsschutzrelevant verfolgt.
2. Unabhängig von der bereits für sich flüchtlingsschutzrelevanten Bestrafung wegen Desertion begründet die dem Kläger drohende Strafvollstreckung wegen seiner Desertion gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG ebenfalls Anspruch auf Flüchtlingsschutz, da die Strafhaft in syrischen Gefängnissen mit willkürlicher Gewaltanwendung verbunden ist.
3. Die Desertion des Klägers wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den syrischen Behörden unabhängig von den persönlichen Gründen des Klägers als Akt politischer Opposition ausgelegt, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Für diese Betrachtungsweise spricht auch die deutsche Rechtspraxis im Hinblick auf die DDR sowie jetzt hinsichtlich der russischen Armee.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016; anderer Ansicht: BVerwG, Urteil vom 19.01.2023 - 1 C 1.22 u.a. (Pressemitteilung) - asyl.net: M31239)
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Dem Kläger droht bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung, denn der Kläger ist nach der schlussendlich gebildeten Überzeugung des Gerichts im Herbst 2015 vom Wehrdienst in Syrien desertiert. [...]
Mit seiner Desertion verhält sich der Kläger ehrenwert und rechtstreu. Denn der Dienst beim syrischen Militär und dem Regime nahe stehenden Milizen umfasste im Jahre 2012 und umfasst auch gegenwärtig noch Verbrechen oder Handlungen, die im Sinne von § 3a Abs.2 Nr. 5 AsylG unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, die sich mithin als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen (vgl. so auch VG Bremen, Urteil vom 27. April 2017 - 5 K 1228/16 -, zitiert nach juris, Rn. 26 ff. und VG Potsdam, Urteil vom 22. März 2018 - VG 12 K 4458/16.A -, S. 18 des Urteilsabdrucks).
Dass der Dienst in der syrischen Armee oder in dem Regime nahestehenden Milizen mit dem Zwang zu wiederholten und systematisch vorgenommenen völkerrechtswidrigen Handlungen verbunden ist, welche die Grundsätze der Menschlichkeit und des humanitären Völkerrechts missachten, scheint in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung unbestritten. [...] Es ist den Gerichten in Deutschland bekannt, dass die verschiedenen, teilweise durch Interessen von außen gesteuerten Konfliktparteien des Bürgerkriegs in Syrien schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen haben (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 18. Oktober 2018 - 2 LB 40/18 -, juris Rn. 66 m.w.N.). Es ist den deutschen Gerichten auch bekannt, dass das syrische Regime seit längerer Zeit einen durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg führt, der sich auch gegen die Teile der Zivilbevölkerung richtet, die in den von einer anderen Bürgerkriegspartei gehaltenen Gebieten leben und die damit auf der anderen Seite stehen (vgl. so VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 39). [...]
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fanden im Jahre 2015 und finden vornehmlich seitens der Truppen und Milizen des Regimes von Baschar al-Assad und von mit ihm verbündeten Organisationen ebenso wie von seinen oppositionellen Kriegsgegnern auch derzeit in Syrien noch in erheblichem Umfang statt. [...]
Ein Mensch, der sich - wie der Kläger - in einem derartigen Krieg aufgrund einer individuellen Entscheidung dem Kriegsdienst durch Desertion entzieht und deshalb wenigstens mit Freiheitsentzug bestraft wird, wird gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG flüchtlingsschutzrelevant verfolgt.
Der Europäische Gerichtshof hat für die Regelung des Art. 9 Abs. 2 c der Richtlinie 2004/83, die insoweit mit der nunmehr gültigen QualRL identisch ist, welche wiederum § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zugrunde liegt, entschieden, dass diese Regelung nicht nur für hochrangige Militärs, sondern für alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen Unterstützungspersonals gilt. Auch kommt es danach nicht darauf an, ob der Betreffende persönlich Kriegsverbrechen begehen müsste oder ob er, weil er - wie der Kläger - an Straßensperren im Hinterland der Front eingesetzt wurde und somit nicht zu den Kampftruppen gehört, sondern etwa einer logistischen oder unterstützenden Einheit zugeteilt ist, an deren Begehung nur indirekt beteiligt wäre. [...]
Der Umstand, dass der Betroffene aufgrund des lediglich indirekten Charakters einer Kriegsbeteiligung und/oder wegen des Gewichts seines Tatbeitrags nicht unbedingt persönlich nach den Kriterien des Strafrechts und insbesondere denen des Internationalen Strafgerichtshofs von Strafverfolgung bedroht wäre, steht dem aus Artikel 9 Abs. 2 e der Richtlinie 2004/83, der unverändert Art. 9 Abs. 2 e QualRL entspricht, resultierenden Schutz nicht entgegen (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015, C-472/13 -, zitiert nach juris, Rn. 37). Erforderlich ist es nach der Auffassung des EuGH dagegen, dass der Betreffende die Kriegsverbrechen nicht auf andere Weise, etwa durch ein reguläres Anerkennungsverfahren als Kriegsdienstverweigerer, vermeiden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015, a.a.O., Rn. 44 ff.). Ein solches Verfahren steht dem Kläger in Syrien nicht zur Verfügung, wie der Kläger durch eine 8-monatige Inhaftierung im Jahre 2012, die die Beklagte nicht in Zweifel gezogen hat, selbst erfahren musste. Es gibt in Syrien keine legale Möglichkeit zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 23. März 2017, a.a.O., S. 4).
Unabhängig von der bereits allein nach den vorstehenden Ausführungen flüchtlingsschutzrelevanten Bestrafung wegen seiner Desertion begründen die dem Kläger drohenden Maßnahmen im Zusammenhang mit der Strafvollstreckung wegen seiner Desertion ebenfalls den Anspruch auf Flüchtlingsschutz. Denn in diesem Fall ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Strafhaft in syrischen Gefängnissen mit gegen die Inhaftierten gerichteter willkürlicher Gewaltanwendung verbunden ist (vgl. dazu nur UNHCR Februar 2017, a.a.O., S. 23). Damit sind Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG gegeben, die sich flüchtlingsschutzrelevant auswirken.
Die Desertion des Klägers wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den syrischen Behörden unabhängig von den persönlichen Gründen des Klägers als ein Akt politischer Opposition ausgelegt (vgl. auch EuGH vom 19. November 2020 - C-238/19 -, juris Rn. 60). Dies entspricht der üblichen Bewertung in Diktaturen.
Diese Folgerung erschließt sich zum einen aus dem deutschen Recht im Zusammenhang mit der Aufhebung rechtsstaatswidriger Entscheidungen in der DDR selbst. Nach dem Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (StrRehaG) ist die strafrechtliche Entscheidung eines staatlichen deutschen Gerichts im Beitrittsgebiet aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 auf Antrag für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben, soweit sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist, insbesondere weil die Entscheidung politischer Verfolgung gedient hat. Dies gilt in der Regel für Verurteilungen nach Vorschriften über die Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung nach § 256 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik oder § 43 des Gesetzes über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. März 1982.
Zum anderen lässt sich diese Folgerung auch aus der Lebenswirklichkeit ableiten, denn laut der Auffassung der beklagten Bundesrepublik Deutschland gilt auch im Fall glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden bei einer unterstellten Rückkehr in die Russische Föderation die Vermutung, dass die dann folgende Bestrafung politisch motiviert ist. Im Fall der mit dem Regime des syrischen Präsidenten verbündeten Russischen Föderation kann für den Fall der Rückkehr eines russischen Deserteurs in die Russische Föderation derzeit in der Regel von drohenden Verfolgungshandlungen gemäß § 3a AsylG ausgegangen werden (vgl. Antwort des parlamentarischen Staatssekretärs Mahmut Özdemir auf die Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, BT-Drucks. 20/2170, S. 69).
Wenn bereits die strafrechtliche Verurteilung für Wehrdienstentziehung oder Wehrdienstverweigerung in der Deutschen Demokratischen Republik in der Regel als eine Verurteilung gilt, die der politischen Verfolgung diente, muss dasselbe nach Auffassung des Gerichts erst recht für das ungleich menschenverachtendere und rechtsstaatswidrigere System des Baschar al-Assad in Syrien angenommen werden. Die beklagte Bundesrepublik Deutschland stellt im Falle der Russischen Föderation eben diese Betrachtung an. Nichts Anderes kann bei objektiver Betrachtung im Fall der Desertion eines syrischen Soldaten im Jahre 2015 für Syrien angenommen werden. Das Verhalten, welches der Kläger gezeigt hat, indem er sich in Syrien dem Wehrdienst durch Desertion entzog, ist nicht nur respektabel, sondern steht im Einklang mit rechtsstaatlichen Werten und den Menschenrechten. [...]