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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 19.01.2023 - 1 C 1.22 (Asylmagazin 10-11/2023, S. 372 ff.) - asyl.net: M31239
https://www.asyl.net/rsdb/m31239
Leitsatz:

Prüfung des Flüchtlingsschutzes bei subsidiär Schutzberechtigten syrischer Staatsangehörigkeit, die sich dem Militärdienst entziehen

"1. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfasst vorbehaltlich entgegenstehender Umstände des Einzelfalls auch die Verweigerung des Militärdienstes durch Antragsteller, die sich im militärdienstpflichtigen Alter befinden, zum Kreis derer gehören, die voraussichtlich dem Militärdienst unterliegen und bei denen beachtlich wahrscheinlich ist, dass sie zeitnah einberufen werden.

2. Eine Zwangsrekrutierung mit anschließendem Fronteinsatz ohne hinreichende militärische Ausbildung ist keine Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.

3. Im Rahmen der Prüfung, ob eine Verknüpfung nach § 3a Abs. 3 AsylG zwischen einem Verfolgungsgrund und einer Verfolgungshandlung vorliegt, spricht eine starke Vermutung im Sinne eines tatsächlichen Erfahrungssatzes dafür, dass eine Militärdienstverweigerung unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht. Diese starke Vermutung rechtfertigt es nicht, vom Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit abzuweichen."

(Amtliche Leitsätze; Vorinstanzen: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.01.2021 - 3 B 109.18 (Asylmagazin 5/2021, S. 168 ff.) - asyl.net: M29482 und VG Berlin, Urteil vom 15.11.2017 - 19 K 166.17 A)

Schlagwörter: Syrien, Militärdienst, Upgrade-Klage, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Kriegsverbrechen, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2011/95/EU Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b,
Auszüge:

[...]

10 2. Mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht im Einklang steht zum einen, dass das Oberverwaltungsgericht die Zulässigkeit des Asylantrags des Klägers nicht am Maßstab des § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG überprüft hat (2.1), und zum anderen, dass es mit einer nicht tragfähigen Begründung die Voraussetzungen des § 3a Abs. 3 AsylG bejaht hat (2.2). [...]

12 2.1 Das angegriffene Urteil verletzt § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG, weil das Berufungsgericht den sich aus dieser Vorschrift ergebenden Unzulässigkeitsgrund nicht geprüft hat. Hierzu hätte mit Blick auf den vom Kläger selbst mitgeteilten und im Tatbestand des Berufungsurteils erwähnten etwa sechsjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten Veranlassung bestanden. [...]

17 2.2 Ebenfalls unter Verstoß gegen Bundesrecht hat das Berufungsgericht die Verpflichtung der Beklagten bejaht, dem Kläger nach Maßgabe der § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1, 2 Nr. 5 und Abs. 3 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

18 a) Im Einklang mit Bundesrecht steht – entgegen der Auffassung der Revision – allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, eine Verweigerung des Militärdienstes im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG könne grundsätzlich auch durch einen Schutzsuchenden erfolgen, der noch kein Militärangehöriger ist oder der noch keinen Einberufungsbefehl erhalten hat. [...]

22 § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU dahingehend auszulegen, dass die genannten Vorschriften es, wenn das Recht des Herkunftsstaates die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsieht und es dementsprechend kein Verfahren zu diesem Zweck gibt, nicht verwehren, diese Verweigerung auch für den Fall festzustellen, dass der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen. Maßgeblich ist, dass diese Verweigerung das einzige Mittel darstellt, das es dem Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG zu entgehen. Ist diese Verweigerung nach dem Recht des Herkunftsstaates rechtswidrig und ist der Antragsteller durch die Verweigerung der Strafverfolgung und Bestrafung ausgesetzt, so kann von ihm vernünftigerweise nicht verlangt werden, dass er jene vor der Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht hat (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 [ECLI:EU:C:2020:945], EZ - Rn. 27 ff.). [...]

25 Allerdings reichen die dargestellten Umstände nicht für den Nachweis aus, dass der Antragsteller den Militärdienst tatsächlich verweigert hat. Nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. a, b und c RL 2011/95/EU ist dies wie die anderen zur Stützung des Antrags auf internationalen Schutz vorgebrachten Anhaltspunkte unter Berücksichtigung aller mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, der maßgeblichen Angaben des Antragstellers und der von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Umstände zu prüfen (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 31). [...]

27 b) Mit § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht im Einklang steht hingegen die Annahme des Berufungsgerichts, eine Zwangsrekrutierung mit anschließendem Fronteinsatz ohne hinreichende militärische Ausbildung sei als Bestrafung im Sinne der Norm anzusehen (aa). Auf diesem Bundesrechtsverstoß beruht die Entscheidung des Berufungsgerichts indessen nicht (bb). [...]

41 d) Mit Bundesrecht nicht im Einklang steht die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, es liege die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen einem Verfolgungsgrund – hier der politischen Überzeugung des Klägers (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) – und der Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG vor. Dies stützt das Oberverwaltungsgericht auf die revisionsrechtlich zu beanstandende Erwägung, es bestehe eine ausreichende Vermutung, dass die Bestrafung von Wehrdienstentziehern (auch) aus politischen Gründen erfolge, weil sie als vermeintliche politische Gegner des Regimes hätten diszipliniert werden sollen, auch wenn eine Bewertung der hier maßgeblichen Tatsachengrundlage in Bezug auf die geforderte Konnexität zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund jedenfalls in gewissem Maße diffus bleibe und für eine vollständige gerichtliche Überzeugungsbildung eher nicht genügen dürfte. Diese Vermutung könne nicht zulasten des Klägers entkräftet oder widerlegt werden, weil eine Gesamtbetrachtung und -würdigung der Erkenntnisse dies nicht hergebe.

42 Mit dieser Auffassung verfehlt das Berufungsgericht nicht nur das von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit. Die hierauf gestützte Verfolgungsprognose begründet zugleich einen materiellen Rechtsverstoß. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Hierfür bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit. Das Tatsachengericht muss sich – auch in Ansehung der "asyltypischen" Tatsachenermittlungs- und -bewertungsprobleme – die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen. Kommt es dem bei der Verfolgungsprognose hinsichtlich der erforderlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund nicht nach, so steht seine Entscheidung weder mit der Zielsetzung des Flüchtlingsrechts (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31.18 - Buchholz 402.251 § 3 AsylG Nr. 3 Rn. 19 m. w. N.) noch mit den maßgeblichen unionsrechtlichen Vorgaben für das Verständnis des § 3a Abs. 3 AsylG (EuGH, Urteile vom 19. November 2020 - C-238/19 - und vom 12. Januar 2023 - C-280/21 [ECLI:EU:C:2023:13], P. I. -) im Einklang.

43 aa) Das Bestehen einer derartigen Verknüpfung kann nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an die Verweigerung des Militärdienstes anknüpfen, und nicht schon aus diesem Grunde der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden und Gerichte entzogen sein (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 50).

44 Die Verweigerung des Militärdienstes muss nicht stets auf einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe beruhen. Sie kann etwa auch durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt. Ginge man davon aus, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen in jedem Fall mit einem der von der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Verfolgungsgründe verknüpft ist, würde dies in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, diesen Gründen weitere Verfolgungsgründe hinzuzufügen und so den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/95/EU gegenüber dem der Genfer Flüchtlingskonvention auszudehnen. Eine solche Auslegung liefe aber der eindeutigen, in Erwägungsgrund 24 RL 2011/95/EU dargelegten Intention des Unionsgesetzgebers zuwider, innerhalb der Union die Umsetzung des Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu harmonisieren. Deshalb bedarf das Bestehen einer Verknüpfung zwischen zumindest einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG der behördlichen und gegebenenfalls gerichtlichen Prüfung (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 48 ff.). [...]

46 Im Rahmen dieser Prüfung spricht aus unionsrechtlicher Perspektive eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 RL 2011/95/EU genannten Gründe in Zusammenhang steht (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 57) und infolgedessen auch eine Verknüpfung im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG vorliegt. Dies folgt vor allem daraus, dass in einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und bei fehlender Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, die hohe Wahrscheinlichkeit besteht (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 60) oder eine starke Vermutung dafür spricht (EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 - C-280/21 - Rn. 35), dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden des betreffenden Drittlands unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird.

47 bb) Unter Berücksichtigung dieser "starken Vermutung" liegt es bei einer Militärdienstverweigerung unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen hiernach im Sinne eines tatsächlichen Erfahrungssatzes (vgl. hierzu auch Pettersson, ZAR 2021, 100 <105>) nahe, dass die Militärdienstverweigerung mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht, insbesondere weil dem Antragsteller in dieser Situation durch den Verfolger eine oppositionelle Gesinnung zugeschrieben wird. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Begründung des Antrags auf internationalen Schutz durch den Antragsteller nicht überspannt werden dürfen. Im Hinblick darauf erkennt Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU ausdrücklich an, dass ein Antragsteller nicht immer in der Lage sein wird, seinen Antrag durch Unterlagen oder sonstige Beweise zu untermauern, und führt die kumulativen Voraussetzungen auf, unter denen solche Beweise nicht verlangt werden; insoweit stellen die Gründe für die Verweigerung des Militärdienstes und folglich die Strafverfolgung, zu der sie führt, subjektive Gesichtspunkte des Antrags dar, für die ein unmittelbarer Beweis besonders schwer erbracht werden kann (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 55).

48 Ob die Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art. 10 RL 2011/95/EU genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU plausibel ist, steht aber unter dem Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung durch die nationalen Behörden und Gerichte in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände, wie der Gerichtshof der Europäischen Union mehrfach ausdrücklich betont hat (vgl. hierzu insbesondere EuGH, Urteile vom 19. November 2020 - C-238/19 - Rn. 50 ff., 56, 61 und vom 12. Januar 2023 - C-280/21 - Rn. 35, 38, 39 i. V. m. Rn. 33). Dabei sind alle relevanten Tatsachen und auch der allgemeine Kontext des Herkunftslands der Person, die die Anerkennung als Flüchtling beantragt, zu berücksichtigen, insbesondere seine politischen, rechtlichen, justiziellen, historischen und soziokulturellen Aspekte (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 - C-280/21 - Rn. 39, 38 i. V. m. Rn. 33). Diese Vorgaben beanspruchen bei der gebotenen unionsrechtskonformen Interpretation des § 3a Abs. 3 AsylG ebenfalls Geltung.

49 Dem Unionsrecht und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich daher nicht – schon gar nicht unabhängig von einer auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse sich ergebenden Veränderung der tatsächlichen Verfolgungslage – entnehmen, dass Personen, die den Militärdienst verweigern, allein deswegen bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu besorgen haben. Der Gerichtshof hat vielmehr lediglich die rechtlichen Maßstäbe entfaltet, nach denen die Gefahr von Verfolgungshandlungen sowie die Verknüpfung mit flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgründen zu prüfen und zu beurteilen sind (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 3. März 2021 - 1 B 6.21 - juris Rn. 7 sowie vom 22. Dezember 2021 - 1 B 70.21 - juris Rn. 6). 50 Diese Maßstäbe rechtfertigen es nicht, bei einem auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten Begehren und der dabei gebotenen tatsächlichen Prüfung aller relevanten Umstände mit Blick auf § 3a Abs. 3 AsylG vom Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO abzuweichen.

51 In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§ 86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden. Die Überzeugungsgewissheit gilt es nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden Erkenntnisse zu gewinnen. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für die Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Auf der Basis der so gewonnenen Prognosegrundlagen hat das Tatsachengericht bei der Erstellung der Gefahrenprognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden zu befinden. Diese Projektion ist als Vorwegnahme künftiger Geschehnisse typischerweise mit Unsicherheiten belastet. Zu einem zukünftigen Geschehen ist der Natur der Sache nach immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich, die sich hier am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit auszurichten hat. Auch wenn die Prognose damit keines "vollen Beweises" bedarf, ändert dies nichts daran, dass sich der Tatrichter gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei verständiger Würdigung der (gesamten) Umstände des Einzelfalls von der Richtigkeit seiner – verfahrensfehlerfrei – gewonnenen Prognose einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180 <182> sowie vom 4. Juli 2019 - 1 C 31.18 - Buchholz 402.251 § 3 AsylG Nr. 3 Rn. 22 und - 1 C 33.18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 21 und Beschluss vom 8. Februar 2011 - 10 B 1.11 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 43 Rn. 7). Im Rahmen dieses für die Entscheidungsfindung vorgegebenen Beweismaßes sind dabei auch (widerlegliche oder unwiderlegliche) tatsächliche Vermutungen, Beweiserleichterungen oder Beweislastregeln heranzuziehen (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 10. März 2021 - 1 B 2.21 - juris Rn. 8). Ebenso ist hierbei in Fällen wie dem vorliegenden – innerhalb des Beweismaßes – die unionsrechtlich vorgegebene starke Vermutung in die Prüfung der Verknüpfung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG einzustellen.

52 Diese rechtlichen Anforderungen verfehlt das Berufungsgericht, indem es das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugungsbildung unterschritten und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft schon auf einer diffusen Tatsachengrundlage zuerkannt hat. [...]