VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 06.12.2022 - 5 K 1175/20.F.A - asyl.net: M31223
https://www.asyl.net/rsdb/m31223
Leitsatz:

Familienasyl für Geschwister nur bei Bestehen der Familie im Herkunftsland:

"Nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG ("Familienasyl") für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige Geschwister des Stammberechtigten entsprechend. Dies bedeutet, dass für die Ableitung eines Schutzstatus unter Geschwistern jedenfalls auch die Voraussetzung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG ("Bestehen einer Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU bereits im Verfolgerstaat") gegeben sein muss, denn diese Voraussetzung ist - anders als § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG - von der Verweisung des § 26 Abs. 3 Satz 2 umfasst."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: VG Sigmaringen, Urteil vom 19.05.2017 - A 3 K 3301/16 - asyl.net: M25357)

Schlagwörter: Familienschutz, Geschwister, Bruder, Schwester, Familienasyl, Familienangehörige, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 2, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, AsylG § 26 Abs. 5 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

17 2. Ohne Erfolg beruft sich der Kläger darauf, er habe Anspruch auf abgeleiteten Flüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3, 5 AsylG über seine Schwester, Kind C, der das Bundesamt mit Bescheid vom 23. Februar 2022 (Geschäftszeichen: …, Bl. 103 ff. GA) die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Das Bundesamt hat der Schwester des Klägers den entsprechenden Status zuerkannt, weil diese im Falle ihrer Einreise nach Äthiopien der Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung ausgesetzt sei (vgl. hierzu den Vermerk des Bundesamts zum Bescheid vom 23. Februar 2022, laufende Nr. 33 der Bundesamtsakte zum dortigen Geschäftszeichen …). Ungeachtet des Umstands, dass dem Kläger, der männlichen Geschlechts ist, ein solches Schicksal nicht zu widerfahren droht, scheitert eine Ableitung des Schutzstatus von der Schwester an den Voraussetzungen, die der Gesetzgeber in § 26 Abs. 3, 5 AsylG hierfür aufgestellt hat.

18 Vorab sei darauf hingewiesen, dass der deutsche Gesetzgeber nicht durch das Unionsrecht ("Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EG") gehalten war, eine Regelung zu schaffen, die über diejenige des § 26 AsylG hinausgeht, denn die Richtlinie sieht eine Erstreckung des internationalen Schutzes kraft Ableitung nicht vor (das deutsche Recht geht insoweit über das unionsrechtlich Verlangte hinaus), sondern gibt den Mitgliedstaaten allein auf, ihr nationales Recht so anzupassen, dass Familienangehörigen des Schutzberechtigten, wenn sie die Voraussetzungen für die Zuerkennung nicht selbst erfüllen, bestimmte Vorteile genießen, die der in Art. 23 Abs. 1 RL 2011/95/EU vorgegebenen Aufrechterhaltung des Familienverbandes dienen (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 25. November 2021 – 1 C 4/21 –, juris Rn. 12 ff.).

19 Nach dem – hier maßgeblichen – § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige Geschwister des Stammberechtigten entsprechend. Dies bedeutet, dass für die Ableitung eines Schutzstatus unter Geschwistern jedenfalls auch die Voraussetzung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG ("Bestehen einer Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU bereits im Verfolgerstaat") gegeben sein muss, denn diese Voraussetzung ist – anders als § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG – von der Verweisung des § 26 Abs. 3 Satz 2 umfasst [...].  Unabhängig davon, was im Einzelnen unter "Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU" zu verstehen ist, muss für den Streitfall konstatiert werden, dass es im Heimatland insoweit keinerlei Familienverbund gegeben hat, weil die Mutter des Klägers den Kindsvater nach eigenem Bekunden erst in der Bundesrepublik Deutschland kennengelernt haben will (vgl. dazu S. 3 der Sitzungsniederschrift).

20 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in einer vergleichbaren Konstellation mit Beschluss vom 2. April 2019 (23 ZB 17.31944 –, juris Rn. 7) bereits Folgendes ausgeführt:

"Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil vom 26. April 2018 (20 B 18.30332 – juris Rn. 26; vgl. auch OVG Hamburg, U.v. 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A – juris Rn. 29) zu einem Sachverhalt, der insofern dem hier zu entscheidenden Fall vergleichbar ist (die Ableitung des Familienasyls soll dort zwar nicht von einem Geschwister, sondern von einem Kind erfolgen, der Umstand, dass lediglich ein Elternteil die einzige Person ist, die als familiäres Bindeglied in Frage kommt, ist dagegen wie hier), entschieden, dass es nicht ausreicht, wenn nur ein Elternteil das Bindeglied in diesem Sinne darstellt. So liegt auch der vorliegende Fall. Der Kläger ist nicht in eine Familie hineingeboren worden, die bereits im Heimatland bestanden hat, sondern in eine Familie, die erst in Deutschland entstanden ist. Dieses Ergebnis beruht darauf, dass das Gesetz (…) wegen der Verweisung in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG (auch) auf § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG jedenfalls eine Familie i.S.v. Art. 2 Buchst. j) RiL 2011/95/EG voraussetzt, wiederum unabhängig davon, dass die Erweiterung in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG auf Geschwister ohnehin über den unionsrechtlichen Familienbegriff, der die Geschwister nicht enthält, hinausgeht (vgl. hierzu Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 26 Rn. 34)."

21 Das erkennende Gericht schließt sich diesen Ausführungen an und macht sie sich zu eigen. Aus dem Urteil des VG Sigmaringen vom 19. Mai 2017 (A 3 K 3301/16) ergibt sich nichts Abweichendes. Soweit sich der Klägerbevollmächtigte auf diese Entscheidung beruft, verkennt er, dass das VG Sigmaringen im Wesentlichen lediglich zur Frage entschieden hat, ob die Ableitung nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG eine geschwisterliche Lebensgemeinschaft bereits im Verfolgerstaat voraussetzt; diese Frage hat das VG Sigmaringen verneint. Das VG Sigmaringen hat indes nicht den Rechtssatz aufgestellt, dass eine Statusableitung unter Geschwistern – entgegen § 26 Abs. 3 Satz 2, Satz 1 Nr. 2 AsylG – auch dann möglich wäre, wenn im Heimatland noch keine Familie bestanden hat. [...]

23 Die Rechtsausführungen, die der Klägerbevollmächtigte während der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegeben hat (vgl. S. 4 f. der Sitzungsniederschrift), betreffen die Frage, ob eine geschwisterliche Lebensgemeinschaft bereits im Heimatland bestanden haben muss, um von Geschwistern internationalen Schutz nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG ableiten zu können. Soweit das Gericht diese Frage in der Vergangenheit nach vorläufiger Auffassung bejahte, ist festzustellen, dass es auf diese Frage aus den oben dargestellten Gründen nicht mehr ankommt. Das Gericht sieht deshalb davon ab, dazu Stellung zu nehmen, ob insbesondere mit dem VG Sigmaringen (Urteil vom 19. Mai 2017 – A 3 K 3301/16) eine solche geschwisterliche Gemeinschaft im Heimatland entbehrlich ist (dagegen VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2022 – 6a K 4116/18.A –, juris Rn. 44; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: Oktober 2021, § 26 Rn. 23d; Vogt/Nestler, in: Huber/Mantel, AufenthaltsG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 26 Rn. 16; siehe auch Blechinger, in: BeckOK, MigR, Stand: Juli 2022, § 26 Rn. 52; Epple, in: GK-AsylG, Stand: November 2020, § 26 Rn. 70 ff.). [...]

25 Soweit der Mutter des Klägers – abgeleitet von der Flüchtlingseigenschaft der klägerischen Schwester – ein entsprechender Schutz zuerkannt wurde, kann der Kläger daraus für sich nichts herleiten. Eine Ableitung eines Schutzstatus von einer Person, der dieser Status ebenfalls kraft Ableitung zuerkannt wurde ("Kettenableitung"), ist unzulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Dezember 2021 – 1 B 35/21 –, juris Rn. 5 ff. m.w.N.) und kommt daher auch im Streitfall nicht in Betracht. [...]