Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft über das Familienasyl gem. § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG kommt auch dann in Betracht, wenn das als Stammberechtigter fungierende Geschwisterkind - wie das um Familienasyl nachsuchende minderjährige Geschwisterkind - erst in der Bundesrepublik Deutschland und mithin nach der Einreise der Restfamilie geboren wurde.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
24 Nicht erforderlich ist hingegen, dass die geschwisterliche Lebensgemeinschaft bereits im Verfolgerstaat bestand (Bodenbender, in: GK-AsylVfG, 82. Juni 2008, § 26 AsylG Rn. 60: "Nach [§ 26] Abs. 2 S. 1 berechtigte Kinder sind nach der durch das Zuwanderungsgesetz erfolgten Neufassung des Gesetzes die ledigen und noch nicht volljährigen Kinder des Stammberechtigten, die sich im Zeitpunkt der Antragstellung in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, unabhängig davon, ob sie eingereist oder hier geboren sind."; a.A. BeckOK AuslR/Günther, 13. Ed. 1.2.2017, AsylG § 26 Rn. 23d; Hailbronner, AuslR, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 26 AsylG Rn. 53e).
25 Die nach der Gegenauffassung geforderte "familiäre, geschwisterliche Lebensgemeinschaft", die schon im Verfolgerstaat bestanden haben müsse, stellt eine zu enge Gesetzesauslegung dar. Denn sie verkennt, dass die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-4 AsylG (hier Nr. 2) über § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG hier nur "entsprechend" gelten. Weil aber bereits nach der seit 2007 geltenden Rechtslage (und wohl schon davor seit 1992) für das Familienasyl minderjähriger Kinder (abgeleitet von ihren Eltern als Stammberechtigten) nicht erforderlich war, dass die (zum Familienasyl berechtigten) Kinder zusammen mit dem Stammberechtigten eingereist sind, mithin bereits vor der Einreise geboren waren, kann es von vornherein nicht darauf ankommen, ob die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem um Familienasyl nachsuchenden minderjährigen Kind und dem Stammberechtigten bereits im Verfolgerstaat bestand. Folgerichtig fordert Art. 2 lit. j RL 20011/95/EG, auf den § 26 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylG rekurriert, nur, dass die "Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat". Mit Familie kann nach dieser Diktion mithin auch lediglich die "Restfamilie", d. h. (wie hier) insbesondere die Eltern des sodann in der Bundesrepublik Deutschland geborenen minderjährigen Kindes, welches nunmehr um Familienasyl nachsucht, gemeint sein. Eine andere Auslegung, wie sie die gegenteilige Auffassung unterstellt, stünde im Widerspruch zur bisherigen, unwidersprochenen Gesetzesauslegung und -anwendung sowie der gesetzgeberischen Intention (vgl. zur Gesetzesentwicklung Bodenbender, a.a.O. Rn. 68 f. sowie BT-Drs. 16/5065, S. 216 (zu Nummer 18 Buchstabe b)).
26 Weder dem Gesetzeswortlaut des § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG, der Qualifikationsrichtlinie noch der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 AsylG kann entnommen werden, dass der Stammberechtigte bereits vor der Einreise (der Familie) geboren sein muss. Gefordert wird vielmehr lediglich die Minderjährigkeit und Ledigkeit des Stammberechtigten zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des um Familienasyl nachsuchenden anderen Familienmitglieds und, dass ein Zusammenhang zwischen der Asylantragstellung der Familienmitglieder und dem Aufenthalt des Stammberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland besteht. So spricht auch Art. 2 lit. j) 3. Spiegelstrich - der ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG mit dieser Bestimmung umgesetzt werden sollte (vgl. BT-Drs. 218/13, S. 30) - lediglich davon, dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, minderjährig sein muss und nicht verheiratet sein darf. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG, wonach die Familie i. S. d. Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EG schon in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Bei unbefangener Wortlautinterpretation legt diese Formulierung zwar nahe, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat politisch verfolgt sein musste. Zwingend ist dies - gerade unter (zulässiger) Heranziehung von Nachfluchttatbeständen und unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben des Art. 2 lit. j) RL 2011/95/EG - jedoch nicht, dient der 2. Halbsatz ersichtlich nämlich lediglich dazu, den maßgeblichen "Herkunftsstaat" zu beschreiben. Dass eine politische Verfolgung eines erst in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kindes möglich ist, hat das Bundesamt - wie hier - durch die Statusentscheidung, dem Stammberechtigten die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, positiv und bis dato unwiderrufen festgestellt.
27 Schließlich spricht die - wenn auch knappe - Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG eher dafür, das Familienasyl auch Familienangehörigen von (erst) in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Stammberechtigten zuzusprechen. Denn die Regelung des § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG soll (ggü. § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG) der Gleichbehandlung von minderjährigen Geschwistern ggü. ihren Eltern dienen. Im Sinne einer entsprechenden Anwendung des § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-4 AsylG ist es daher geboten, die Anforderungen an das Familienasyl von Minderjährigen nach S. 2 nicht strenger zu fassen als an jenes ihrer Eltern nach S. 1. Wenn aber die Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 2 AsylG a. F. (bzw. jene zur identischen Vorgängerregelung des § 7a Abs. 3 AsylG 1990 (BGBl I-1354, 1381 v. 13.07.1990): BT-Drs. 11/3055, S. 5 (Ziff. 6.) und BT-Drs. 11/6960, S. 29, 30 (zu Art. 3 Nr. 3)) die Regelung u. a. darauf stützt, dass sie sozial gerechtfertigt sei, weil sie die Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten fördere und die § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG zugrunde liegende Begründung der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EG (dort Erwägungsgrund 38) das Kindeswohl in den Vordergrund rückt, kommt dessen Förderung nicht nur in Betracht, wenn das Kind um Familienasyl nachsucht, sondern auch, wenn es - als Stammberechtigter - dieses für seine nahen Angehörigen gerade erst vermitteln soll. Denn in beiden Fällen dient die Zuerkennung des Familienasyls der Familieneinheit insgesamt und damit dem Kindeswohl des minderjährigen Kindes - gleich, ob es Stammberechtigter oder Familienangehöriger ist. [...]