OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 14.03.2022 - 4 A 341/20.A - asyl.net: M31163
https://www.asyl.net/rsdb/m31163
Leitsatz:

Keine systemischen Mängel für Familien mit Kindern im Hinblick auf Italien:

"Familien mit minderjährigen Kindern sind durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh ausgesetzt."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: EGMR, Urteil vom 23.3.2021 – 46595/19: M.T. gegen die Niederlande – hudoc.echr; anderer Ansicht: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 - asyl.net: M31148)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, minderjährig, Familienangehörige, Familie, Kindeswohl, Aufnahmeeinrichtung, Unterbringung, Obdachlosigkeit, Zusicherung, Rundschreiben, Existenzminimum, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. [...]

I. Die Beklagte hat die Asylanträge zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG abgelehnt. [...]

Auch nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist ein Übergang der Zuständigkeit nicht eingetreten. Systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien liegen bezogen auf die Personengruppe der Familien mit minderjährigen Kindern nicht vor. Besondere einzelfallbezogene Umstände, aufgrund derer eine mit Unionsrecht unvereinbare Behandlung der Kläger in Italien zu erwarten ist, sind nicht gegeben. [...]

Systemische Mängel der Aufnahmebedingungen setzen voraus, dass die Lebensbedingungen derart schlecht sind, dass dem Antragsteller das ernsthafte Risiko einer Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh droht. [...]

Das Risiko einer Verletzung des Art. 4 GRCh kann in schlechten humanitären Verhältnissen begründet liegen [...]. Die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats muss zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse, d. h. insbesondere sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, zu befriedigen. [...]

Die Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable, also besonders verletzliche Personen früher erreicht sein. Gegenüber dieser Personengruppe obliegt den Mitgliedstaaten eine besondere Schutzverpflichtung. [...]

2. Nach diesen Maßstäben sind Familien mit minderjährigen Kindern durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt. Insbesondere existiert eine hinreichende Zusicherung für eine familiengerechte Unterbringung im Anschluss an die Rückführung nach Italien. [...]

Ende des Jahres 2018 verschlechterten sich mit dem Erlass des sogenannten Salvini-Dekrets (Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration) die Aufnahmebedingungen in Italien. [...]

Inzwischen wurden allerdings durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret No. 130/2020 die Aufnahmebedingungen in Italien wieder verbessert. Danach sollen zukünftig alle Asylantragsteller so schnell wie möglich in die von "SIPROIMI" in "SAI" umbenannten Unterkünfte wechseln. Diese bieten neben Leistungen zur Erfüllung von Grundbedürfnissen auch Maßnahmen mit dem Ziel einer umfassenden Integration (Gesellschaft, Arbeitsmarkt, Sprache) an (BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11. November 2020, S. 14, AIDA, a. a. O. S. 119). Im Vergleich zu den CAS Unterkünften gelten sie als besser ausgestattet. Über die geänderte Lage informierte die Italienische Republik die anderen Dublin-Staaten mit Rundschreiben vom 8. Februar 2021. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung verneinte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK in einem Fall, in dem eine Überstellung einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern im Grundschulalter nach Italien beabsichtigt war (EGMR, Urt. v. 23. März 2021- 46595/19 -, HUDOC).

Der Senat folgt dieser Einschätzung und geht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen in Italien unter Berücksichtigung des Rundschreibens vom 8. Februar 2021 auch bezogen auf Familien mit minderjährigen und damit vulnerablen Kindern grundsätzlich nicht im Widerspruch zu Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK stehen. [...]

aa) Es ist auch ohne individuelle Garantieerklärung gewährleistet, dass Familien mit minderjährigen Kindern unmittelbar im Anschluss an die Rückführung nach Italien eine familiengerechte Unterkunft erhalten. [...]

Im Rundschreiben vom 8. Februar 2021 an die anderen Dublin-Staaten hat die Italienische Republik darüber informiert, dass nunmehr die Möglichkeit bestehe, Asylantragsteller als Familien in SAI-Unterkünften aufzunehmen. Das Rundschreiben schließt mit dem Hinweis: "[...] in the framework of the new system these dedicated centres will host even Dublin family groups with minors, returned from other Member States, in accordance with the Tarakhel judgement.”

Zweifel, dass diese allgemeine Zusicherung tatsächlich eingehalten wird, bestehen auf Grundlage der aktuellen Erkenntnislage nicht. Die Erweiterung des Personenkreises, der in den SAI-Unterkünften untergebracht wird, beruht auf einer Novelle des italienischen Asylrechts und ist Ausdruck einer veränderten italienischen Asylpolitik. Deshalb bestehen derzeit keine Zweifel an dem Willen der italienischen Behörden, die Zusicherung zu erfüllen. [...]

Im Übrigen besteht für Familien mit minderjährigen Kindern selbst dann kein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung, wenn im Einzelfall eine zeitnahe Unterbringung in einer SAI-Einrichtung nicht möglich sein sollte. Durch die erfolgte Gesetzesnovelle kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass vulnerable Personen jedenfalls zeitweilig auch in den sogenannten CAS-Unterkünften (Centri di accoglienza straordinaria) angemessen untergebracht werden können (EGMR, Urt. v. 23. März 2021 - 46595/19 -, HUDOC Rn. 55). [...]

Eine Entziehung kann nach italienischem Recht erfolgen, wenn der Asylantragsteller sich nicht in der zugewiesenen Einrichtung vorgestellt oder die Einrichtung verlassen hat, ohne die zuständige Präfektur zu benachrichtigen, nicht zur persönlichen Anhörung bei den Asylbehörden erschienen ist oder gegen die Hausordnung der Aufnahmeeinrichtung verstößt (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 109 f.). Aus einer in der Vergangenheit erfolgten Entziehung des Unterbringungsanspruchs folgt aber nicht, dass Familien bei einer Rückkehr nach Italien zeitweilig oder dauerhaft eine Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung versagt werden wird. Dies stünde nicht nur im Widerspruch zur Zusicherung im Rundschreiben vom 8. Februar 2021, sondern auch zum Unionsrecht. Es ist geklärt, dass ein Mitgliedstaat keine Sanktion vorsehen darf, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden (EuGH, Urt. v. 12. November 2019 - C-233/18 -, juris Rn. 45 ff.). [...]

Durch die Organisation des Überstellungsverfahren ist außerdem gewährleistet, dass eine familiengerechte Unterbringung unmittelbar im Anschluss an die Überstellung nach Italien erfolgt. [...]

bb) Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist in Italien sichergestellt. Es ist davon auszugehen, dass Krankheiten in Italien behandelbar sind und ausreichende Behandlungskapazitäten existieren. [...]

cc) Der Zugang zu weiteren erforderlichen staatlichen Leistungen ist gegeben. Voraussetzung, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, ist teilweise eine Registrierung am Wohnort ("residenza") (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 171). Diese können Asylantragsteller inzwischen wieder in zumutbarer Weise vornehmen, weil der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die durch das sogenannte Salvini-Dekret geschaffenen Erschwernisse bei der Registrierung für verfassungswidrig erklärt hat. [...]

b) Im Anschluss an die Zuerkennung internationalen Schutzes besteht für Familien mit minderjährigen Kindern ebenfalls grundsätzlich kein ernsthaftes Risiko, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist davon auszugehen, dass Familien mit minderjährigen Kindern nach Stattgabe ihres Asylantrags zunächst für in der Regel ein Jahr in ihrer während des Asylverfahrens bewohnten Aufnahmeeinrichtung verbleiben können. [...]

aa) Familien mit minderjährigen Kindern wird es voraussichtlich gelingen, unmittelbar im Anschluss an die Unterbringung in der Aufnahmeeinrichtung eine bedarfsgerechte Unterkunft zu erhalten.

Der Senat ist sich bewusst, dass es für international Schutzberechtigte nicht einfach ist, in Italien auf dem freien Markt eine Wohnung zu erhalten. [...]

Falls eine Anmietung auf dem freien Wohnungsmarkt nicht gelingen sollte, können sich Familien um eine staatlich geförderte Wohnung bemühen. [...]

Des Weiteren können sich Familien an die italienischen Kirchen und Hilfsorganisationen wenden. Diese bieten sowohl Unterkünfte für anerkannte Schutzberechtigte als auch Unterstützung bei der Wohnungssuche an. [...]

Von dieser Lage ausgehend wird es Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Zuerkennung internationalen Schutzes jedenfalls mit Unterstützung der staatlichen Sozialdienste oder von Hilfsorganisationen - im Allgemeinen rechtzeitig gelingen, außerhalb des Systems der Aufnahmeeinrichtungen eine angemessene Unterkunft zu erhalten und damit eine Obdachlosigkeit zu vermeiden. Wenn ihnen keine Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt gelingt, haben sie einen dringenden Bedarf auf Zuteilung von Wohnraum, der aller Voraussicht nach durch staatliche Stellen und Hilfsorganisationen erfüllt werden wird. [...]

bb) Des Weiteren wird es Familien mit minderjährigen Kindern voraussichtlich gelingen, die erforderlichen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung zu erhalten.

(1) Es wird regelmäßig möglich sein, diese Mittel selbst zu erwirtschaften. Arbeitsfähige international Schutzberechtigte haben eine realistische Chance, innerhalb des ersten Jahres nach der Zuerkennung internationalen Schutzes eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. [...]

Neben einer Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt können sich international Schutzberechtigte auch um eine Arbeit in der Schattenwirtschaft bemühen. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich (OVG NRW, Urt. v. 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris Rn. 130 f.). Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migrantinnen und Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten (borderline-europe, Die Situation der Geflüchteten auf Sizilien, 2019, S. 42 ff.). Die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft ist grundsätzlich zumutbar (BVerwG, Beschl. v. 17. Januar 2022 - 1 B 66.21 -, juris Rn. 29 m. w. N.). [...]

(2) Ein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung besteht auch dann nicht, falls eine Familie mit minderjährigen Kindern auf finanzielle Hilfen angewiesen sein sollte. In diesem Fall werden die erforderlichen finanziellen Mittel voraussichtlich durch den italienischen Staat bereitgestellt werden. [...]

3. Besondere einzelfallbezogene Umstände, aufgrund derer abweichend von der grundsätzlichen Einschätzung zur Situation von Familien mit minderjährigen Kindern eine mit Unionsrecht unvereinbare Behandlung der Kläger in Italien zu erwarten ist, sind nicht gegeben. [...]