Dublin-Rückkehrenden droht in Italien nur bei vorheriger Asylantragstellung Obdachlosigkeit:
1. Hatte eine Person vor ihrer Einreise nach Deutschland in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, droht ihr nach einer Überstellung keine Obdachlosigkeit und auch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, anders als bei Personen, die während des Asylverfahrens aus Italien ausreisen und dadurch ihren Anspruch auf einen Platz in der Unterkunft verlieren.
2. Das gleich gilt für Personen, die nach ihrer Überstellung in Italien als schutzberechtigt anerkannt werden, im Unterschied zu denjenigen, die nach ihrer Anerkennung Italien verlassen. Erstere haben einen Anspruch auf Unterbringung, während letzteren Obdachlosigkeit droht.
3. Die Situation auf dem italienischen Arbeitsmarkt ist weiter angespannt, wobei eine leichte Verbesserung erkennbar ist, sodass die Chancen auf einen Arbeitsplatz steigen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)
[...]
Dem Kläger droht zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rücküberstellung nach Italien nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK. [...]
(1) Mit Urteil vom 20. Juli 2021 hat der Senat entschieden, dass ein Kläger, der vor seiner Antragstellung in Deutschland einen Asylantrag in Italien gestellt hat, im Falle einer im Rahmen des Dublin-Verfahrens erfolgenden Rücküberstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und der damit verbundenen Versorgung haben wird, wenn die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 der Gesetzesverordnung ("decreto legislativo") Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 vorliegen. Danach kann der zuständige Präfekt die Aberkennung von Betreuungsmaßnahmen anordnen, wenn der Asylantragsteller/die Asylantragstellerin im zugeteilten Empfangszentrum nicht erscheint oder dieses ohne vorherige Mitteilung verlässt (Art. 23 Nr. 1a) oder wenn der Asylantragsteller/die Asylantragstellerin nicht zur Anhörung erscheint, obwohl er/sie darüber informiert worden ist (Art. 23 Nr. 1 b) (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 60 ff. m. w. N.).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Die Situation eines Klägers, der - wie hier - in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat und die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 der Gesetzesverordnung ("decreto legislativo") Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 nicht erfüllt, stellt sich dagegen anders dar. Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh besteht für ihn nicht. Die vorliegenden, im Internet allgemein zugänglichen Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, ein solcher Kläger werde während der Dauer des Asylverfahrens die elementaren Grundbedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in einer zumindest noch zumutbaren Weise befriedigen können.
Es ist davon auszugehen, dass ein Kläger, der in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat und die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 der Gesetzesverordnung ("decreto legislativo") Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 nicht erfüllt, im Zuge der Rücküberstellung bei der Grenzpolizei einen förmlichen Asylantrag stellen kann (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 29), der in einem ordnungsgemäßen Verfahren geprüft wird [...].
Nach der Antragstellung wird er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entweder in einer Erstaufnahmeeinrichtung (CAS = centri di accoglienza straordinaria) oder - im Rahmen der zur Verfügung stehenden Plätze - in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (SAI = Sistema di accoglienza e di integratione) untergebracht werden [...].
(2) Mit weiterem Urteil vom 20. Juli 2021 hat der Senat entschieden, dass ein Kläger, der vor seiner Weiterreise nach Deutschland in Italien bereits internationalen Schutz erhalten hat, im Falle einer Rücküberstellung auf sich selbst gestellt ist, und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Unterkunft - einer Zweitaufnahmeeinrichtung - und der damit verbundenen Versorgung haben wird, wenn er entweder die nach Art. 38 und 39 der im Anhang beigefügten Richtlinien ("Allegato A: Linee guida per il funzionamento del sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati", im Folgenden: SIPROIMI-Richtlinien, abgedruckt in Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana vom 4. Dezember 2019, www.gazzettaufficiale.it) maximal vorgesehene Unterbringungsdauer bereits erreicht hatte oder nach Art. 40 dieser Richtlinie die Voraussetzungen für eine Entziehung des Rechts auf Unterkunft in einem SIPROIMI-Projekt erfüllt, insbesondere weil er in der zugewiesenen Unterkunft nicht vorstellig geworden oder sie ohne behördliche Erlaubnis für länger als 72 Stunden verlassen hat (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 35, 40 ff.).
Ferner werde er in Italien innerhalb kurzer Zeit nach seiner Rückkehr, worauf es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach bereits eine kurzfristige Obdachlosigkeit die Schwelle des Art. 4 GRCh überschreitet (vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 78 f.), ankommt, auch keine andere menschenwürdige Unterkunft finden (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 96 ff.); insbesondere werde er sich in Anbetracht der Situation auf dem italienischen Arbeitsmarkt jedenfalls nicht innerhalb kurzer Zeit aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern versorgen können (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 102 ff.), keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen und keine seine elementaren Bedürfnisse befriedigende Unterstützung von Hilfsorganisationen erhalten (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 137 ff.).
Auch an dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Die Situation eines Klägers, der - wie hier zu unterstellen - erst nach seiner Rücküberstellung in Italien als international schutzberechtigt anerkannt wird, stellt sich dagegen anders dar. Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh besteht für ihn nicht. [...]
Es ist davon auszugehen, dass er nach Zuerkennung des internationalen Schutzstatus mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls für sechs Monate einen Platz in einer staatlichen Zweitaufnahmeeinrichtung erhält und damit nicht allein auf sich gestellt. [...]
Nach diesen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass nach Italien zurückgeführte Schutzsuchende auch nach einer Zuerkennung des internationalen Schutzstatus im Regelfall für (mindestens) sechs Monate Unterkunft in einer Zweitaufnahmeeinrichtung finden. Dass ein solcher Unterbringungsplatz nicht garantiert werden und in Einzelfällen eine Wartezeit entstehen kann, lässt nicht auf systemisch begründete Mängel des italienischen Aufnahmesystems schließen.
Die Unterbringung für jedenfalls sechs Monate gibt gesunden, arbeitsfähigen Erwachsenen die Möglichkeit, Integrationsleistungen in Anspruch zu nehmen und sich auf dem italienischen Arbeits- und Wohnungsmarkt zurechtzufinden. Diese Übergangszeit unterscheidet die Situation eines "Dublin-Rückkehrers", der in Italien vor seiner Weiterreise nach Deutschland noch keinen Asylantrag gestellt hatte und in Italien zunächst in einer Erst- sowie nach unterstellter Schutzgewährung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung untergebracht wird, von der Situation zurückgeführter Asylantragsteller oder international Schutzberechtigter, die ihr Recht auf Unterbringung im Erst- oder Zweitaufnahmesystem zwischenzeitlich verloren haben und deshalb bereits unmittelbar nach ihrer Rückführung auf sich allein gestellt sind. [...]
Personen mit internationalem Schutz können sich bei lokalen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer Registrierung u. a. über Stellenangebote informiert. Aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen in Italien ist es für international Schutzberechtigte schwer, Arbeit zu finden. Geringe Sprachkenntnisse und fehlende Qualifikationen oder Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen erschweren die Arbeitssuche zusätzlich. Schwarzarbeit ist sehr verbreitet. [...]
Derzeit ist die Situation weiter angespannt, wobei eine leichte Verbesserung erkennbar ist. [...]