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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 17.01.2022 - 1 B 66.21 - asyl.net: M31153
https://www.asyl.net/rsdb/m31153
Leitsatz:

Beschwerde des BAMF gegen Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen in Dublinverfahren bezüglich Italiens zurückgewiesen:

Das OVG Nordrhein-Westfalen hat nicht gegen den Überzeugungsgrundsatz oder die Amtsaufklärungspflicht gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO verstoßen, indem es zu der Bewertung gelangt ist, dass eine Person bei ihrer Rücküberstellung nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung oder zu einer anderweitigen menschenwürdigen Unterkunft erlangen werde, sodass eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK/Art. 4 GR-Charta drohe.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901)

Schlagwörter: Italien, Beschwerde, Revision, Revisionsverfahren, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Aufnahmeeinrichtung, Verfahrensfehler, Existenzgrundlage,
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 § 3 Abs. 2, VwGO § 108 Abs. 1, VwGO § 108 Abs. 2, VwGO § 133 Abs. 3 S. 3, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

2 I. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen. [...]

9 2. Die Beschwerdebegründung hat auch nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt, das Berufungsgericht habe dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz bzw. gegen die Amtsaufklärungspflicht (2.1) oder die aus dem Überzeugungsgrundsatz folgende Auseinandersetzungspflicht (2.2) verstoßen, dass es zu der Bewertung gelangt ist, im Fall seiner Rücküberstellung nach Italien werde der Kläger als sogenannter "Dublin-Rückkehrer" mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung oder zu einer anderweitigen menschenwürdigen Unterkunft erlangen, so dass ihm eine Verletzung seiner durch Art. 4 GRC geschützten Rechte drohe.

10 2.1 Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz und die Amtsaufklärungspflicht ist nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt.

11 a) Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. Ob das Gericht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage entschieden hat (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist grundsätzlich eine dem materiellen Recht zuzuordnende Frage der Tatsachen- und Beweiswürdigung, auf die eine Verfahrensrüge nicht gestützt werden kann. [...]

12 b) Nach diesen Grundsätzen ist ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz oder die Amtsaufklärungspflicht schon nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargetan.

13 Das Berufungsgericht hat seine Bewertung, von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen gestellte Unterbringungsmöglichkeiten böten keinen Ersatz für eine fehlende staatliche Unterbringung (UA S. 27), auf die in Bezug genommenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts gestützt und ergänzend auf einen aktuellen Länderbericht verwiesen, nach dem es schwierig sei, die Zahl der verfügbaren, zudem in der Regel nur für Notfälle vorgesehenen Plätze von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen zu erfassen. Diese Erkenntnislage hat es dahin bewertet, dass der Kläger in Italien - auch wegen der nicht bekannten Gesamtzahl - nicht eine den Anforderungen des Art. 4 GRC entsprechende Unterkunft finden werde. [...]

14 2.2 Ein Verfahrensfehler ist auch insoweit nicht dargelegt, als eine unzureichende Auseinandersetzung mit Erkenntnismitteln und insbesondere der im Ergebnis entgegenstehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VGH Mannheim, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -) bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung als Verletzung einer Begründungspflicht gerügt wird.

15 a) Die Feststellung und Bewertung der Erkenntnislage ist grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272>). Daher begründen (vermeintliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts regelmäßig keinen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. [...]

16 b) Der Verweis auf die im Ergebnis gegenläufigen Bewertungen in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, welche die Beklagte bereits in der Begründung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung herangezogen hatte, reicht mit Blick auf die Erwähnung dieser Rechtsprechung im erstinstanzlichen Urteil, auf das das Berufungsgericht Bezug genommen hat, zur Darlegung eines derartigen Verfahrensfehlers hier nicht aus; hierzu wäre der Verfahrensmangel sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert zu bezeichnen gewesen. [...]

17 3. Das Berufungsgericht hat die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO bestehende Auseinandersetzungspflicht (s.o. 2.2) auch nicht dadurch verletzt, soweit es dahin erkannt hat, dass der Kläger im Fall seiner Rücküberstellung nach Italien mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein werde, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen; insoweit fehlt es bereits an der Entscheidungserheblichkeit. [...]

21 3.2 Die Revision ist indes insoweit nicht zuzulassen, weil es - ungeachtet der Frage, ob die vorbezeichneten Grundsätze beachtet worden sind - an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit fehlt.

22 a) Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Ergebnis frei von durchgreifenden Zulassungsgründen selbstständig tragend darauf gestützt, dass dem Kläger bereits mangels Zugangs zu einer menschenwürdigen Unterkunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner durch Art. 4 GRC geschützten Rechte drohe. Der Sache nach tritt die Bewertung des Berufungsgerichts, der Kläger werde als "Dublin-Rückkehrer" auch nicht innerhalb absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz finden, der ihm ein ausreichendes Einkommen zur Finanzierung einer menschenwürdigen Unterkunft und des unabdingbar erforderlichen Lebensunterhalts bietet, als selbstständig tragende Erwägung hinzu. Ist eine Berufungsentscheidung - wie hier - auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt, kann die Revision nur zugelassen werden, wenn gegenüber jeder der Begründungen ein durchgreifender Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 15. Juni 1990 - 1 B 92.90 - Buchholz 11 Art. 116 GG Nr. 20 S. 11 f., vom 26. Juni 2014 - 1 B 5.14 - Buchholz 402.242 § 81 AufenthG Nr. 3 Rn. 6 und vom 28. März 2019 - 1 B 7.19 - juris Rn. 14).

23 Daran fehlt es hier, weil durchgreifende Zulassungsgründe in Bezug auf das Erfordernis des Zugangs zu einer menschenwürdigen Unterkunft - wie unter 2. ausgeführt - nicht vorliegen. [...]