LG Kleve

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Zitieren als:
LG Kleve, Beschluss vom 12.12.2022 - 4 T 100/22 - asyl.net: M31144
https://www.asyl.net/rsdb/m31144
Leitsatz:

Akten der Ausländerbehörde sind bei einstweiliger Haftanordnung beizuziehen:

1. In aller Regel sind bei Haftanordnungen, auch im Wege der einstweiligen Anordnung, die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen. Sind die Akten nicht erreichbar, muss das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise nachkommen.

2. In zumindest denkbaren Einzelfällen, dass die Akte der Ausländerbehörde keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Haftantrags nebst Anlagen hinausgehen, müsste das Haftgericht ausdrücklich im Haftbeschluss feststellen und plausibel begründen, warum in diesem Einzelfall ausnahmsweise von der Beiziehung der Akte abgesehen werden konnte.

3. Wird die Akte der Ausländerbehörde rechtswidriger Weise nicht beigezogen, ist eine gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft eine rechtswidrige Freiheitsentziehung. Diese lässt sich rückwirkend nicht mehr heilen, und es ist unerheblich, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Akte beruhte.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16 (Asylmagazin 8/2020, S. 286 f.) - asyl.net: M28466)

Schlagwörter: Ausländerakte, Abschiebungshaft, einstweilige Anordnung, Beiziehung, einstweilige Anordnung, Amtsermittlung, Verfahrensakte
Normen: GG Art. 104, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, FamFG § 417 Abs. 2 S. 3, FamFG § 26,
Auszüge:

[...]

Mit Beschluss vom 28.07.2022 hat das Amtsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung beschlossen, dass der Betroffene längstens bis zum 25.08.2022 in Abschiebungshaft (Sicherungshaft) genommen wird und die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses angeordnet. [...]

Mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 02.08.2022 hat der Betroffene gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt und beantragt, festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat und dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. [...]

Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 25.08.2022 nicht abgeholfen. [...]

Das Rechtsmittel ist als befristete Beschwerde gemäß den §§ 58 ff. FamFG zulässig eingelegt worden. Nachdem sich die befristete Beschwerde zwischenzeitlich in der Hauptsache durch Zeitablauf erledigt hat, da Sicherungshaft längstens bis zum 25.08.2022 angeordnet worden war, wird sie zulässigerweise mit einem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen amtsgerichtlichen Entscheidung gemäß § 62 Abs. 1 FamFG weiter verfolgt.

Dieser nunmehr zur Entscheidung gestellte Antrag ist begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts vom 28.07.2022 hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. Denn er ist in nicht zulässiger Weise ohne Hinzuziehung der Ausländerakte ergangen.

Dies stellt einen Verstoß gegen das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG dar (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16 - Rn. 47 ff. - zit. nach juris). Die Akten der Ausländerbehörde sind als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung in aller Regel beizuziehen. Sind die Akten nicht erreichbar, muss das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise genügen (BVerfG, a.a.O. - Rn. 52 m.w.N.). Aus der Ausländerakte können sich Tatsachen ergeben, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind, insbesondere Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zugunsten des Betroffenen ergibt, denn Sicherungshaft darf grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn die Abschiebung konkret möglich erscheint. Auch wenn es in Einzelfällen denkbar ist, dass die Ausländerakte keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Haftantrags nebst Anlagen hinausgehen, so muss das Haftgericht in einem solchen Einzelfall doch zumindest ausdrücklich im Haftbeschluss feststellen und plausibel begründen, warum ausnahmsweise von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen werden konnte (BverfG, a.a.O. - Rn. 53). Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte - Jedenfalls ohne jegliche Begründung - belastet die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht (BVerfG a.a.O - Rn. 54).

Dem Amtsgericht lagen ausweislich des Protokolls zur Anhörung vom 28.07.2022 [...] lediglich das Schreiben der Bundespolizeiinspektion Kleve vom 19.07.2022, die Abschlussprüfung BAMF vom 18.07.2017 und das Urteil VG Frankfurt/Main vom 31.03.2022 (per E-Mail) vor. Dass dem Amtsgericht die Ausländerakte vorgelegen hätte, ergibt sich aus dem Protokoll gerade nicht. Auch die auf entsprechende Nachfrage des Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen hin eingeholte dienstliche Stellungnahme der zuständigen Richterin vom 18.08.2022 [...] lässt nicht erkennen, dass dem Gericht die Ausländerakte vorgelegen hätte. Es muss daher im Zweifel angenommen werden, dass dies nicht der Fall war. Der angefochtene Beschluss enthält keine Angaben dazu, warum das Gericht von der Einsichtnahme in die Ausländerakte abgesehen hat. [...]