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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16 (Asylmagazin 8/2020, S. 286 f.) - asyl.net: M28466
https://www.asyl.net/rsdb/M28466
Leitsatz:

Keine Haftentscheidung ohne Beiziehung der aufenthaltsrechtlichen Akte; zur Benachrichtigung einer Vertrauensperson:

1. Die fehlende unverzügliche Benachrichtigung von Angehörigen oder einer Vertrauensperson vor einer Haftentscheidung verstößt gegen Art. 104 Abs. 4 GG, welcher Betroffenen ein subjektives Recht gewährt. Die spätere Benachrichtigung von Bevollmächtigten ändert hieran nichts. Da jedoch keine Verletzung des Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 104 Abs. 1 GG vorliegt, muss die Haftentscheidung trotz Rechtswidrigkeit nicht aufgehoben werden. 

2. Das Ausbleiben der Beiziehung der aufenthaltsrechtlichen Akte durch das Amts- und Landgericht vor einer Haftentscheidung ohne Begründung stellt eine Verletzung des Freiheitsrechts nach Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 104 Abs. 1 GG dar. Das Nachholen der Beiziehung ändert daran nichts. Der Verstoß muss jedoch im Rechtsbeschwerdeverfahren vor dem BGH ordnungsgemäß geltend gemacht werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Vertrauensperson, Prozessbevollmächtigte, Verfahrensbevollmächtigte, rechtliches Gehör, Akteneinsicht, Benachrichtigungspflicht, Freiheitsentziehung, Recht auf Freiheit, Freiheitsrecht, subjektives Recht, Beziehung von Akten, Rechtsbeschwerde,
Normen: GG Art. 104 Abs. 1, GG Art. 104 Abs. 4, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Art. 104 Abs. 4 GG ist nicht nur eine objektive Verfassungsnorm, die dem Richter eine Verpflichtung auferlegt; sie verleiht zugleich dem Festgehaltenen ein subjektives Recht darauf, dass die Vorschrift beachtet wird. Sie schreibt die unverzügliche Benachrichtigung eines Angehörigen des Festgehaltenen oder einer Person seines Vertrauens von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung vor. Aus Sinn Lind Zweck der Vorschrift ergibt sich, dass diese Pflicht dem Richter obliegt, der die Haft oder ihre Fortdauer anordnet (vgl. BVerfGE 16, 119 <122 f.>). Die mit Verfassungsrang angeordnete Benachrichtigungspflicht tritt selbstständig neben die Entscheidung über die Freiheitsentziehung.

Ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG liegt allerdings dann nicht vor, wenn die in Frage stehende Entscheidung über die Freiheitsentziehung - im vorliegenden Fall der Beschluss des Amtsgerichts vom 13. Dezember 2014 -, dem Bevollmächtigten des Betroffenen bekanntgegeben wird, da ein von dem Betroffenen mandatierter Prozessbevollmächtigter in aller Regel als Person seines Vertrauens gelten kann (vgl. BVerfGE 16, 119 <123 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 2019 - 2 BvR 2177/18 -, juris). Denn der Zweck des Art. 104 Abs. 4 GG, einer in Haft genommenen Person den Kontakt nach außen zu sichern und damit ein spurloses Verschwinden von Personen zu verhindern, wird durch die Bekanntgabe des Beschlusses an den Bevollmächtigten regelmäßig sichergestellt, jedenfalls wenn dieser auf den ausdrücklichen Wunsch des Vertretenen tätig geworden ist.

Diese Grundsätze hat das Amtsgericht missachtet. Sein Beschluss vom 13. Dezember 2014 ist eine richterliche Entscheidung über die Anordnung einer Freiheitsentziehung. Deshalb wäre der vom Beschwerdeführer benannte Angehörige, Herr ... oder eine andere Vertrauensperson von der Haftanordnung jedenfalls bis zur Mandatierung eines Prozessbevollmächtigten durch den in Haft genommenen Beschwerdeführer unverzüglich zu benachrichtigen gewesen. Das ist nicht geschehen. Die spätere Kenntnis des Prozessbevollmächtigten von der Inhaftierung seines Mandanten ändert an dem Vorliegen des festgestellten Verfassungsverstoßes nichts. Denn der Beschwerdeführer hat seinen Bevollmächtigten erst nach Bekanntgabe des Beschlusses des Amtsgerichts vom 13. Dezember 2014 mandatiert.

c) Da die Verletzung des Art. 104 Abs. 4 GG den sachlichen Gehalt der angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts über die Haftanordnung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht berührt (vgl. BVerfGE 16, 119 <124>; 38, 32 <34 f.>), ist über die tenorierte Feststellung einer Verletzung des Art. 104 Abs. 4 GG durch das Unterlassen der dort vorgeschriebenen Benachrichtigung hinaus keine weitere Rechtsfolge auszusprechen. Aus der vorzitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich ableiten, dass die Nichtbenachrichtigung einer benannten Vertrauensperson den in Haft befindlichen Betroffenen nicht zusätzlich in seinem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG verletzt, so dass die Haftanordnung nicht wegen der Nichtbenachrichtigung aufzuheben ist; dass dies erneuter Überprüfung bedürfte, macht die vorliegende Verfassungsbeschwerde nicht hinreichend substantiiert geltend. [...]

a) Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht und das Landgericht stellt allerdings einen Verstoß gegen das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1. GG dar (aa); der Beschwerdeführer hat in Bezug auf diesen Streitgegenstand jedoch den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht gewahrt (bb).

aa) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die Freiheit als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>; 65, 317 <322>). [...]

Die Akten der Ausländerbehörde sind als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung in aller Regel beizuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, juris, Rn. 30; Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, S. 3015 <3017 f.>); sind die Akten nicht erreichbar, muss das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise genügen (vgl. zur entsprechenden Problematik im Auslieferungsrecht BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 23 ff. <30>).

Aus der Ausländerakte können sich Tatsachen ergeben, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind, insbesondere Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zugunsten des Betroffenen ergibt, denn Sicherungshaft darf grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn die Abschiebung konkret möglich erscheint (vgl. Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, S. 3015 <3018 f.>; Beschlussempfehlung zum FamFG, BTDrucks 16/9733, S. 299). Auch wenn es in Einzelfällen denkbar ist, dass die Ausländerakte keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Haftantrags nebst Anlagen hinausgehen, so muss das Haftgericht in einem solchen Einzelfall doch zumindest ausdrücklich im Haftbeschluss feststellen und plausibel begründen, warum ausnahmsweise von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen werden konnte.

Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte - jedenfalls ohne jegliche Begründung - belastet die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. BVerfGE 58, 208 <223>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 1990 - 2 BvR 1592/88 -, juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. März 1996 - 2 BvR 927/95 juris, Rn. 18) und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht (so zur unterlassenen Anhörung: BVerfGK 9, 132, <138>).

Demgegenüber hat das Amtsgericht seine Entscheidung über die Haftanordnung in Unkenntnis des Inhalts der Ausländerakte des Beschwerdeführers getroffen. Es begründet in seinem Beschluss auch nicht, weshalb es von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen hat. Auch das Landgericht hat das Vorbringen des Beschwerdeführers in Unkenntnis der Ausländerakte zurückgewiesen.

bb) Trotz der Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 56 Abs. 1 GG durch die Nichtbeiziehung der Ausländerakte kann die Verfassungsbeschwerde insoweit jedoch nicht zur Entscheidung angenommen werden, da der Beschwerdeführer den Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt hat. Nach diesem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verankerten Grundsatz muss ein Beschwerdeführer das ihm Mögliche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 134, 106 <115>). [...]