VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 01.12.2022 - 4 K 475/20.A - asyl.net: M31132
https://www.asyl.net/rsdb/m31132
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für homosexuellen Mann aus Venezuela:

1. Zwar sind homosexuelle Handlungen in Venezuela nicht strafbar, homosexuelle Menschen werden aber diskriminiert. Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation wird es einem jungen, gesunden, homosexuellen Mann deshalb selbst mit guter Ausbildung, Berufserfahrung und familiärer Unterstützung wahrscheinlich nicht gelingen, eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften.

2. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wird der Kläger wegen seiner erkennbar ausgelebten Homosexualität auch vom Zugang zu Lebensmitteln im staatlichen Sozialsystem (sog. CLAP-System) ausgeschlossen werden. Zudem werden diese Leistungen ohnehin überaus unregelmäßig und unzureichend gewährt.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Osnabrück, Urteil vom 17.09.2018 - 5 A 51/17 - asyl.net: M27324)

Schlagwörter: Venezuela, homosexuell, Diskriminierung, Existenzgrundlage, Nahrungsmittel, Sozialleistungen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Das Gericht ist nach dem Vortrag des Klägers bei dessen Anhörung vor dem Bundesamt und in dem vorliegenden Gerichtsverfahren davon überzeugt, dass der Kläger eine homosexuelle Identität und Orientierung besitzt. [...]

Das erkennende Gericht kommt zu der Einschätzung, dass es dem Kläger aufgrund seiner sexuellen Identität besonders erschwert ist, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern, auch wenn dies in der Vergangenheit gelungen sein mag.

Nach den Erkenntnismitteln stellt sich die Lage für homosexuelle Menschen folgendermaßen dar: Homosexualität ist in Venezuela nicht strafbar. [...] Homosexualität leidet aber weiterhin, wie auch andere nicht heteronormative sexuelle und geschlechtliche Identitäten, unter einer sehr geringen sozialen Akzeptanz, mit der Folge, dass Angehörige dieser Personengruppen Diskriminierung und gelegentlich Gewalt ausgesetzt sind [...].

Der Kläger ist jung, gesund, arbeitsfähig, besitzt das Abitur sowie ein abgeschlossenes ... und Berufserfahrung in diesem Fach als Angestellter und auch als Selbstständiger auf dem venezolanischen Arbeitsmarkt. Außerdem hat er mit seinen Eltern, die in einer Eigentumswohnung leben, seinen beiden Geschwistern sowie der weiteren, entfernteren Familie in Venezuela noch familiäre Verbindungen in seinen Herkunftsstaat. Damit bestehen dem ersten Anschein nach grundsätzlich günstige Voraussetzungen dafür, dass der Kläger seine Existenz durch Einsatz seiner Arbeitskraft aber auch durch Unterstützung der Familie sichern könnte. Dennoch erachtet es das Gericht vorliegend im Fall des Klägers als unwahrscheinlich, dass es ihm bei einer hypothetisch unterstellen Rückkehr nach Venezuela gelingen wird, seinen Lebensunterhalt nachhaltig - selbst nicht mit Unterstützung seiner in Venezuela verbliebenen Familie - zu sichern. Auch wenn es ihm möglich sein sollte, sich trotz der erheblichen Diskriminierungen als Homosexueller auf dem ohnehin angespannten venezolanischen Arbeitsmarkt durchzusetzen oder zumindest eine Anstellung ggf. in Tagelöhnerschaft zu erhalten, ist das Gericht überzeugt,dass der erwirtschaftete Lohn nicht zur Existenzsicherung ausreichen wird und der Kläger zu seiner Versorgung mit grundlegenden Lebensmitteln auf den Zugang zu den Lebensmittelpaketen des CLAP-Systems und weiteren staatlichen Sozialleistungen angewiesen sein wird, um sein Überleben zu sichern. Aus Sicht des Gerichts besteht jedoch die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass er diese und weitere staatliche Leistungen dauerhaft aufgrund seiner erkennbar ausgelebten Homosexualität und der damit einhergehenden Diskriminierung nicht erhalten wird, zumal diese Leistungen nach der gerichtlichen Erkenntnislage an sich schon überaus unregelmäßig und unzureichend gewährt werden. [...]