Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte begründet Anspruch auf unverzügliche Ausstellung einer Verfahrens-Bescheinigung:
1. Beantragen Familienangehörige von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger*innen eine Aufenthaltskarte, ist ihnen gemäß Art. 10 Abs. 1 S. 2 Freizüg-RL (RL 2004/38/EG) unverzüglich eine Bescheinigung über die Einreichung dieses Antrags auszustellen. Hierfür ist weder erforderlich, dass die antragstellende Person die Voraussetzungen für die Aufenthaltskarte gemäß Art. 2 Nr. 2 c) Freizüg-RL bzw. § 1 Abs. 2 Nr. 3 c) FreizügG/EU) erfüllt, noch, dass die für die Ausstellung der Aufenthaltskarte erforderlichen Dokumente vorliegen.
2. Soweit § 5 Abs. 1 FreizügG/EU für eine solche Bescheinigung voraussetzt, dass die für den Antrag auf eine Aufenthaltskarte erforderlichen Angaben gemacht worden sind, widerspricht das Art. 10 Abs. 1 S. 2 Freizüg-RL. Es kann offenbleiben, ob § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU derart richtlinienkonformen ausgelegt werden kann, dass eine Bescheinigung allein aufgrund des Antrags auf eine Aufenthaltskarte auszustellen ist oder ob sich der Anspruch auf Ausstellung der Bescheinigung unmittelbar aus Art. 10 Abs. 1 S. 2 Freizüg-RLFreizüg-RL ergibt.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Köln, Beschluss vom 14.01.2021 - 5 L 2348/20 - asyl.net: M29322)
[...]
Der Antragsteller begehrt die Ausstellung einer Bescheinigung über die Einreichung seines Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers.
Der am … 1995 geborene Antragsteller ist bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger. Seine Mutter ist ebenfalls Staatsangehörige Bosnien-Herzegowinas und seit dem … 2020 mit einem kroatischen Staatsbürger verheiratet, mit dem sie zusammen in der Bundesrepublik Deutschland lebt. Der Antragsteller reiste am … 2021 in das Bundesgebiet ein und nahm Wohnsitz bei seiner Mutter und seinem Stiefvater.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 06.12.2021 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern und berief sich dabei auf die Vorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 3c FreizügG/EU. Der Antragsteller sei als (Stief-) Sohn eines Unionsbürgers als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt werde, anzusehen und genieße daher ebenfalls Freizügigkeit. [...]
Der Antrag ist nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft, da es sich bei der begehrten Bescheinigung nicht um einen Verwaltungsakt (vgl. Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Aufenthaltsrecht, 14. Aufl. 2022, § 5 FreizügG/EU, Rn. 22), sondern um eine deklaratorische Erklärung handelt. Deren Ausstellung wäre in der Hauptsache mit einer Leistungs- und nicht mit einer Verpflichtungsklage durchzusetzen.
Dem Antrag steht auch nicht entgegen, dass durch die Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Hauptsache möglicherweise vorweggenommen wird. Denn im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes notwendig ist, d.h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9/12 –, juris Rn. 22; Beschluss vom 26. November 2013 – 6 VR 3/13 –, juris Rn. 5). Dies ist vorliegend der Fall. Ein weiteres Zuwarten hätte zur Folge, dass der Antragsteller während der Prüfung der Voraussetzungen seines Antrags vom 06.12.2021 auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für drittstaatsangehörige Familienangehörige nicht nachweisen könnte, dass er sich in einem Antragsverfahren nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU befindet und damit sein Aufenthalt während der Dauer dieses Verfahrens geregelt ist. [...]
Der Antrag ist auch begründet. [...]
Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung über die Beantragung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU wird freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU erhalten Familienangehörige unverzüglich eine Bescheinigung darüber, dass die erforderlichen Angaben gemacht worden sind.
§ 5 Abs. 1 FreizügG/EU setzt Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (im Folgenden: Freizügigkeitsrichtlinie) in deutsches Recht um. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Freizügigkeitsrichtlinie wird hingegen unverzüglich eine Bescheinigung über die Einreichung eines Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte ausgestellt. Die Bestimmung setzt insoweit lediglich voraus, dass – wie hier am 06.12.2021 – ein Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers gestellt worden ist. Demgegenüber ist es für die Bescheinigung nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Freizügigkeitsrichtlinie nicht erforderlich, dass der Antragsteller auch Familienangehörige gemäß Art. 2 Nr. 2 c) Freizügigkeitsrichtlinie bzw. § 1 Abs. 2 Nr. 3 c) FreizügG/EU ist. Diese Frage ist vielmehr erst im Verfahren auf Ausstellung der Aufenthaltskarte zu klären und ihre Verneinung führt zu deren Versagung. Das ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 d) Freizügigkeitsrichtlinie, wonach die Mitgliedstaaten für die Ausstellung der Aufenthaltskarte in den Fällen des Art. 2 Nr. 2 c) und d) Freizügigkeitsrichtlinie den urkundlichen Nachweis verlangen, dass die dort genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Erteilung der Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung der Aufenthaltskarte ist dagegen nicht davon abhängig, dass die für deren Ausstellung erforderlichen Dokumente bereits vorliegen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. November 2020 – 18 B 544/19 –, juris Rn. 3 und Beschluss vom 11. März 2022 – 18 B 242/22 –, juris Rn. 8; Hess. VGH, Beschluss vom 07. August 2014 – 7 B 1216/14 –, juris Rn. 13; VG Augsburg, Beschluss vom 18. Mai 2018 – Au 6 E 18.394 –, juris Rn. 31 und 32; VG Bremen, Beschluss vom 23. Dezember 2021 – 2 V 1621/21 –, juris Rn. 18).
Die beschriebenen europarechtlichen Vorgaben sind in § 5 Abs. 1 FreizügG/EU mithin defizitär umgesetzt worden. Insoweit kann, weil nicht entscheidungserheblich, offenbleiben, ob § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Regelung erweiternd dahin ausgelegt werden kann, dass er auch die unionsrechtlich erforderliche Bescheinigung umfasst oder ob sich der Anspruch auf Ausstellung dieser Bescheinigung aus einer unmittelbaren Wirkung der Regelung der Richtlinie ergibt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. November 2020 - 18 B 544/19 -, juris, Rn. 10 und Beschluss vom 11. März 2022 – 18 B 242/22 –, juris Rn.11). Jedenfalls ist die Bescheinigung unverzüglich nach Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte auszustellen. Dies entspricht auch dem Zweck der Bescheinigung als Nachweismittel für einen verfahrensrechtlich ordnungsgemäßen Aufenthalt im Zeitraum zwischen der Antragstellung und der Entscheidung über die Ausstellung der Aufenthaltskarte [...].
Soweit der Antragsgegner unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 25.10.2017 –1 C 34.16 –, juris Rn. 12) einwendet, dass die Freizügigkeitsvermutung vorliegend nicht eingreife, weil die Angehörigeneigenschaft noch nicht feststehe und in Fällen wie diesen der Anwendungsbereich des FreizügG/EU und das Recht auf Einreise und Aufenthalt zusammenfalle, trifft dies für die Ausstellung der Aufenthaltskarte zu. Die (Verfahrens)Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU bzw. Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Freizügigkeitsrichtlinie dient demgegenüber aber nur dem Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts im Zeitraum zwischen der Antragstellung und der Entscheidung über die Ausstellung einer Aufenthaltskarte (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 7. August 2014 – 7 B 1216/14 –, juris Rn. 13). Die jeweilige Behörde hat es dabei selbst in der Hand, durch eine zügige Bearbeitung des Antrags den Verwendungszeitraum einer derartigen Bescheinigung möglichst kurz zu halten (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. März 2022 – 18 B 242/22 –, juris Rn. 10). [...]