Zu den Anforderungen an die Form digitaler Akten und Bescheide:
1. Die Akte des BAMF kann an Prozessbevollmächtigte auch als Abfolge einzelner PDF-Dateien ohne durchgehende Paginierung übermittelt werden, bei der die Struktur und Abfolge der Aktenteile nur durch eine frei verfügbare Software visualisiert werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass der Zugang zu allen in die Akte aufgenommenen, für die Vertretung der Interessen der Antragstellerin/des Antragstellers relevanten Informationen gewährleistet und eine vollständige und chronologische Einsicht in alle für die Rechtsvertretung relevanten Informationen möglich ist sowie eine möglichst exakte Wiedergabe der Struktur und Chronologie der Akte.
2. Dass eine Entscheidung über internationalen Schutz gemäß Art. 11 Abs. 1 RL 2013/32/EU schriftlich ergehen muss, bedeutet lediglich, dass die Entscheidung in Form grafischer Zeichen ergehen muss, die eine Bedeutung aufweisen. Entscheidungen können also handschriftlich, auf Papier ausgedruckt oder elektronisch ergehen. Lediglich konkludente oder mündliche Entscheidungen sind ausgeschlossen. Aus dem Schriftformerfordernis folgt nicht, dass Entscheidungen mit der Unterschrift der Verfasser*innen unterzeichnet worden sein müssen.
(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage: VG Wiesbaden, Beschluss vom 03.09.2021 - 6 L 582/21.WI.A - asyl.net: M30073)
[...]
10 Der Kläger des Ausgangsverfahrens stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, der vom BAMF mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 (im Folgenden: Bescheid vom 18. Dezember 2019) abgelehnt wurde. Dieser Bescheid beruht insbesondere auf der Stellungnahme eines Bediensteten des BAMF, der mit spezifischen Fragen in Bezug auf das Land, dessen Staatsangehörigkeit BU besitzt, betraut ist. Der Inhalt dieser Stellungnahme wurde in der Sachverhaltsdarstellung des Bescheids als Zitat wiedergegeben.
11 Entsprechend der Verwaltungspraxis des BAMF unterschrieb der Bedienstete, der über den Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens auf internationalen Schutz entschied, den Bescheid vom 18. Dezember 2019 handschriftlich, digitalisierte ihn und speicherte das durch die Digitalisierung entstandene Dokument in der elektronischen Behördenakte des Betroffenen. Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhielt einen Ausdruck dieses Dokuments. Das Original des Bescheids wurde hingegen nach seiner Digitalisierung vernichtet. [...]
13 Im Gerichtsverfahren legte das BAMF im Zuge seiner Klageerwiderung die – nachträglich durch die oben angeführte Stellungnahme ergänzte – elektronische Akte des Klägers des Ausgangsverfahrens vor, und zwar in Form mehrerer gesonderter PDF-Dokumente sowie eines Strukturdatensatzes im XML-Format (Extensible Markup Language), der die Verwendung einer geeigneten Software erfordert, um die ursprüngliche Struktur der Akte, wie sie sich für das BAMF darstellt, nachzubilden. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die betreffenden nationalen Gerichte über eine solche Software verfügen und dass diese öffentlich zugänglich ist und von anderen Personen, einschließlich der Vertreter von Antragstellern, im Internet kostenlos heruntergeladen werden kann. Selbst im Fall der Nutzung dieser Software ist die betreffende Akte allerdings nicht durchgehend paginiert.
14 Der Vertreter des Klägers des Ausgangsverfahrens beantragte, das BAMF möge ihm die vollständige Behördenakte des Klägers übersenden, und zwar in Form einer einzigen, durchgehend paginierten PDF-Datei. Nach der Ablehnung dieses Antrags stellte er beim vorlegenden Gericht insoweit einen Antrag auf einstweilige Anordnung. [...]
16 Das vorlegende Gericht hält den Antrag des Vertreters des Klägers des Ausgangsverfahrens für begründet, da die elektronische Akte des Klägers weder in ihrer Gesamtheit zugänglich noch vollständig vorgelegt worden sei, wie es § 99 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung verlange. [...]
20 Außerdem handele es sich bei den übermittelten Bescheiden nicht um Originale. Nach der Verwaltungspraxis des BAMF seien die mit der Unterschrift des Verfassers des betreffenden Bescheids versehenen Originale nämlich zunächst zu digitalisieren und anschließend zu vernichten, so dass letztlich nur noch eine elektronische Kopie dieser Originale verbleibe. [...]
33 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 Abs. 1 sowie Art. 46 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Verwaltungspraxis entgegenstehen, nach der die Verwaltungsbehörde, die über einen Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, dem Vertreter des Antragstellers eine Kopie der diesen Antrag betreffenden elektronischen Akte in Form einer unstrukturierten Abfolge einzelner PDF-Dateien ohne durchgehende Paginierung übermittelt, deren Struktur mit Hilfe einer kostenlosen, im Internet frei verfügbaren Software visualisiert werden kann. [...]
41 Im Einzelnen ist, da sich die ersten beiden Vorlagefragen auf die Akteneinsicht im Kontext eines Gerichtsverfahrens beziehen, festzustellen, dass nach Maßgabe der in Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 genannten präzisen Anforderungen die dem zuständigen Gericht – zumindest im ersten Rechtszug – von der Behörde, die über den betreffenden Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, übermittelte Verfahrensakte vollständig sein und alle Verfahrensschriftstücke, Unterlagen und sonstigen Aktenstücke enthalten muss, die der Behörde bei der Entscheidungsfindung zur Verfügung standen, sowie gegebenenfalls auch Aktenbestandteile, die aus der Zeit nach dieser Entscheidung stammen, aber für sie relevant sind. [...]
43 Vorbehaltlich der Aktenbestandteile, deren vertrauliche Behandlung die betreffende Behörde im Hinblick auf gebührend dargelegte, dem Gemeinwohl dienende Ziele beantragt (siehe oben, Rn. 37 und 38), und mit Ausnahme der Unterlagen, die für die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz nicht erheblich sind, muss der Vertreter des Antragstellers nämlich Zugang zu den vollständigen dem zuständigen Gericht vorgelegten Akten erhalten, um im Rahmen eines kontradiktorischen Diskurses sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Gesichtspunkte, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind, erörtern zu können. [...]
44 Überdies kann ein solches Recht auf Akteneinsicht auch den Zugang zu den Metadaten der Behördenakte des Antragstellers umfassen, d. h. den Daten, die die Struktur dieser Akte betreffen und dazu dienen, den Akteninhalt zu beschreiben, zu erläutern oder zu lokalisieren oder auf andere Weise den Zugang zu ihm zu erleichtern. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass solche Metadaten, je nach Art und Inhalt, "Informationen in der Akte des Antragstellers …, auf deren Grundlage über den Antrag entschieden wurde oder entschieden wird", im Sinne von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 darstellen. Dies kann insbesondere bei Verknüpfungen zu anderen den Antragsteller oder seine Familienangehörigen betreffenden Verfahren der Fall sein. Das vorlegende Gericht wird jedoch zu prüfen haben, ob es dem Gemeinwohl dienende Ziele gibt (siehe oben, Rn. 37 und 38), die der Offenlegung dieser Metadaten entgegenstehen; insoweit wird das Gericht einen Ausgleich zwischen den Verteidigungsrechten des Antragstellers und den Interessen an der Wahrung der Vertraulichkeit der Informationen anstreben müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, UBS Europe u. a., C-358/16, EU:C:2018:715, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Zum Format, in dem die verschiedenen Aktenbestandteile dem Vertreter des Antragstellers übermittelt werden, und zu ihrer Struktur ist zunächst festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 und von Art. 46 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32 keine Regel enthält, mit der die praktischen und technischen Einzelheiten der Akteneinsicht des Vertreters des Antragstellers explizit festgelegt würden. [...]
47 Im vorliegenden Fall hat der Vertreter des Antragstellers, wie oben in Rn. 13 ausgeführt, entsprechend der betreffenden nationalen Verwaltungspraxis die elektronische Akte des Klägers des Ausgangsverfahrens erhalten, und zwar in Form mehrerer gesonderter PDF-Dokumente sowie eines Strukturdatensatzes im XML-Format, was die Verwendung einer geeigneten, im Internet kostenlos herunterladbaren Software erfordert, um die ursprüngliche Struktur der Akte nachzubilden. Nicht übermittelt wurden hingegen die Metadaten dieser Akte, wie z. B. Zugriffe auf sie seitens des Behördenpersonals, die Historie der Akte oder Verknüpfungen zu anderen den Antragsteller oder seine Familienangehörigen betreffenden Verfahren.
48 Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass im Unterschied zur Übermittlung einer einzigen, durchgehend paginierten PDF-Datei eine Übermittlungsart wie die vom BAMF gewählte es nicht ermögliche, Änderungen der Behördenakte des Klägers des Ausgangsverfahrens nachzuvollziehen und zu gewährleisten, dass die vorgelegte Akte der bei der Behörde geführten Akte entspreche [...]
49 Die deutsche Regierung macht in ihren schriftlichen Erklärungen hingegen geltend, die den einzelnen PDF-Dateien beigefügten Strukturdaten böten die Möglichkeit, mit Hilfe geeigneter Software den Aufbau der ursprünglichen Akte nachzubilden. [...]
50 Insoweit ergibt sich aus der oben in den Rn. 38, 39 und 43 angeführten Rechtsprechung, dass das vorlegende Gericht, um zu klären, ob eine Übermittlungsart der Verfahrensakte wie die vom BAMF gewählte mit dem in Art. 47 der Charta verbürgten Recht auf Akteneinsicht im Einklang steht, zu prüfen haben wird, ob diese Übermittlungsart gewährleistet, dass die Struktur der Akte und die Chronologie der Aufnahme der verschiedenen Unterlagen in die Akte möglichst exakt wiedergegeben werden, so dass der Vertreter des Antragstellers prüfen kann, ob die für die Wahrnehmung der Interessen des Antragstellers relevanten Unterlagen vollständig in der Akte enthalten sind, und gegebenenfalls die Übermittlung fehlender Unterlagen verlangen oder nach dem Grund ihres Fehlens fragen kann. [...]
51 Hervorzuheben ist allerdings, dass es nicht nur eine einzige technische Lösung geben dürfte, die geeignet ist, die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Einklang mit Art. 47 der Charta zu gewährleisten. [...]
52 Insbesondere ist nicht auszuschließen, dass die Übermittlung der fraglichen Akte in Form einzelner PDF-Dateien die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte des Antragstellers in einer der Übermittlung einer einzigen, durchgehend paginierten PDF-Datei gleichwertigen Weise gewährleisten kann, sofern die formalen und technischen Modalitäten der Übermittlung so ausgestaltet sind, dass sie eine möglichst exakte Wiedergabe der gesamten Akte des Betroffenen und ihrer Struktur ermöglichen, gegebenenfalls mittels einer leicht zugänglichen und zum Herunterladen verfügbaren Software, die hinreichende Sicherheitsgarantien bietet. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. [...]
56 In Anbetracht aller vorstehenden Erwägungen ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 23 Abs. 1 sowie Art. 46 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Verwaltungspraxis, wonach die Verwaltungsbehörde, die über einen Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat, dem Vertreter des Antragstellers eine Kopie der diesen Antrag betreffenden elektronischen Akte in Form einer Abfolge einzelner PDF-Dateien ohne durchgehende Paginierung übermittelt, deren Struktur mit Hilfe einer kostenlosen, im Internet frei verfügbaren Software visualisiert werden kann, nicht entgegenstehen, sofern zum einen diese Art der Übermittlung den Zugang zu allen in die fragliche Akte aufgenommenen, für die Vertretung der Interessen des Antragstellers relevanten Informationen gewährleistet, auf deren Grundlage die Entscheidung über den betreffenden Antrag ergangen ist, und zum anderen diese Art der Übermittlung eine möglichst exakte Wiedergabe der Struktur und der Chronologie der Akte ermöglicht; hiervon unberührt bleiben Fälle, in denen Gemeinwohlbelange der Offenlegung bestimmter Informationen gegenüber dem Vertreter des Antragstellers entgegenstehen. [...]
57 Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz mit der handschriftlichen Unterschrift des Bediensteten der zuständigen Behörde, der die Entscheidung verfasst hat, versehen sein muss, damit sie als schriftlich ergangen im Sinne dieser Vorschrift gilt, und, wenn ja, ob diese Vorschrift einer Verwaltungspraxis entgegensteht, die darin besteht, das unterschriebene Original einer solchen Entscheidung zu digitalisieren, es anschließend zu vernichten und die digitalisierte Fassung der Entscheidung in einer elektronischen Akte zu speichern.
58 Hierzu ist sogleich festzustellen, dass das in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 genannte Erfordernis, dass die Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz schriftlich ergeht, nicht bedeutet, dass sie mit der Unterschrift ihres Verfassers versehen sein muss.
59 Aus der Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass die im Unionsrecht für zahlreiche Fälle geltende Pflicht, einen Rechtsakt, insbesondere eine beschwerende Entscheidung, in Schriftform abzufassen [...], lediglich bedeutet, dass diese Entscheidung in Form grafischer Zeichen ergehen muss, die eine Bedeutung aufweisen, unabhängig davon, ob sie handgeschrieben, auf Papier ausgedruckt oder in elektronischer Form registriert sind [...]. Somit ist der Ausdruck "schriftlich" im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er eine konkludente Entscheidung oder, worauf die deutsche und die ungarische Regierung hingewiesen haben, eine mündlich bekannt gegebene Entscheidung ausschließt.
60 Dagegen folgt aus dem Schriftformerfordernis nicht automatisch, dass die betreffende Entscheidung mit der Unterschrift ihres Verfassers versehen sein muss, sei es in handschriftlicher Form oder in Form einer elektronischen Signatur. [...]
63 Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nicht mit der Unterschrift des Bediensteten der zuständigen Behörde, der die Entscheidung verfasst hat, versehen sein muss, damit sie als schriftlich ergangen im Sinne dieser Vorschrift gilt. [...]