Aussetzung des Verfahrens und EuGH-Vorlage zur Akteneinsicht beim BAMF:
"(...) 1. Es ist fraglich, ob ein faires (Asyl-) Verfahren gewährleistet wird, wenn ein vollständiger Zugang zu der vollständigen elektronischen Behördenakte nicht so gewährt wird, wie dieser den Beschäftigten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge möglich ist, nicht aber dem Gericht oder einem Rechtsanwalt.
2. Es ist fraglich, ob bei einer im Original unterschriebenen Entscheidung, die nach dem Einscannen vernichtet wird, noch die Schriftlichkeit der Entscheidung nach Art. 11 Abs. 1, 45 Abs. 1 lit. a) Richtlinie 2013/32/EU gegeben ist."
(Amtliche Leitsätze)
Siehe auch:
[...]
21 Das vorlegende Gericht hält die Beschwerde des Rechtsanwaltes für berechtigt und legt wegen grundsätzlicher Bedeutung der sich daraus ergebenden Fragen diese dem EuGH vor, da sie einheitlich gegenüber einer deutschlandweit tätigen Behörde, aber auch für die Justizverwaltungen aller Bundesländer einheitlich zu klären sind. Daraus folgt auch die sich dann ergebende Arbeitsweise des zur Entscheidung berufenen Richters im Rahmen seiner justiziellen Tätigkeit und vor allem die ihm gegenüber bereitgestellten (unvollständigen) Informationen aus der elektronischen Akte, welche in einem Gerichtsverfahren die Basis für eine Entscheidung bilden können.
22 Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass die elektronische Bundesamtsakte keiner ordnungsgemäßen Aktenführung entspricht, da die gesamte elektronische Akte nicht zugänglich ist und nach § 99 Abs. 1 VwGO nicht vollständig vorgelegt wird. Akten als Speichermedium von verwaltungsinternem Wissen sichern die Funktionsfähigkeit der Verwaltung und machen hoheitliches Handeln nachvollziehbar und kontrollierbar (vgl. Grundmann/Greve, Löschen und Vernichten von Akten, NVwZ 2015, S. 1726, VG Wiesbaden, Urteil vom 28.12.2016, Az. 6 K 332/16.WI - rechtskräftig). In einem Rechtsstaat sichern Akten ein transparentes und kontrollierbares hoheitliches Handeln, damit der demokratische Rechtsstaat auch seiner Rechenschaftspflicht nachkommen kann (Grundmann/Greve, aaO mit weiteren Nachweisen). Das Führen von Akten in der Verwaltung ist insoweit das implizierte Erfordernis einer funktionierenden Verwaltung und wird auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung als aus dem Rechtsstaatsprinzip nach der Grundrechtecharta (vgl. auch Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Pflicht der Behörde zur objektiven Dokumentation des bisherigen wesentlichen sachbezogenen Geschehensablauf vorausgesetzt (BVerfG, NJW 1983, S. 2135; Kallerhoff/ Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 8. Auflage 2014, § 29 Rdnr. 30). Insoweit ist der Gesetzesvollzug als zentrale Aufgaben verwaltungsgemäßes Handeln nicht ohne eine Dokumentation der einzelnen Verwaltungsvorgänge denkbar (BVerfG, NJW 1983, S. 2135).
23 Eine ordnungsgemäße Vorlage der Verwaltungsvorgänge macht auch eine verfassungsrechtlich gebotene und über Art. 19 Abs. 4 GG subjektivrechtlich gewährleistete Kontrolle der Exekutive durch die (Verwaltungs-)Gerichtsbarkeit erst möglich. Die Vorenthaltung der Akten erschwert es den Gerichten, ihren Kontrollauftrag aus Art. 47 GrCh (Art.19 Abs. 4, 92 GG) nachzukommen und stellt die gerichtliche Durchsetzung von Rechten durch den Rechtssuchenden vor Hindernisse, die diese nicht selbst ausräumen können.
24 Das Fehlen einfachgesetzlicher Möglichkeiten des Gerichts, die Verwaltung - z.B. durch vollstreckbare Anordnungen - zur Aktenvorlage zu zwingen, geht von der Überlegung des Gesetzgebers aus, dass die Verwaltung sich rechtmäßig verhält. Andernfalls wäre die Möglichkeit geschaffen worden, z.B. durch Hausdurchsuchungen und dergleichen auf Anordnung des Gerichts (wie dies im Strafverfahren möglich ist) diese zu beschaffen.
25 Geht aber der Gesetzgeber von einer "gesetzestreuen" Verwaltung aus, so hat diese nach dem Rechtsstaatsprinzip eine zügige und vollständige Erfüllung der Aktenvorlagepflicht zu gewährleisten. (VG Wiesbaden, Urteil vom 07. April 2017 – 6 K 429/17.WI.A –, juris, Rn. 30 ff.). Dies kann auch nicht davon abhängig sein, wie die es um die Effektivität des digitalen "Aktenexportes" steht.
26 Hinzu kommen die sog. Metadaten (Protokolle über Zugriffe zur Akte bei der Behörde, die Veränderung der Akte, ggf. durch entfernen von Unterlagen, Wiedervorlagen und weiteres), welche selbst bei einem vollständigen PDF-Ausdruck ebenso wenig dem Gericht zur Verfügung gestellt werden, wie auch dem Rechtsanwalt. Auch bestehen in der sog. Maris-Akte auf der Bildschirmoberfläche Verknüpfungen zu Verfahren von Familienangehörigen oder vorhergehenden Verfahren, ED-Daten und anderem, die mit der "Akte" nicht übersandt und bekannt gegeben werden, obwohl all dies in dem sog. Aktenführungssystem vorhanden ist und damit die Akte als solche bildet. Damit wird schon dem Gericht gegenüber die vollständige Akte verweigert (siehe Exemplarisch Vfg. des VG Darmstadt vom 15.09.2014; zur mangelhaften Aktenvorlage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge siehe VG Wiesbaden, Urteil vom 09. August 2017 – 6 K 808/17.WI.A).
27 Zu einem fairen Verfahren gehört aber der Zugang zu der vollständigen Akte der Behörde, was letztendlich bedeutet, dass ein Onlinezugriff auf die vollständige Akte, wie diese bei der Behörde vorhanden ist, möglich sein müsste. Nur dann steht dem Rechtsanwalt nach Art. 23 RICHTLINIE 2013/32/EU der Zugang "zu den Informationen in der Akte des Antragstellers" zur Verfügung. Dem Gericht würde in diesem Fall die vollständige Akte vorgelegt. Alles andere stellt offensichtlich ein Minus dar und verstößt zur Überzeugung des Gerichts gegen Art. 23 RICHTLINIE 2013/32/EU und das Recht auf eine faires Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GrCh (i.d.S. auch BVerfG, Beschluss vom 4.5.2021, 2 BvR 277/19).
28 Wenn die Akte als ein "elektronisches" Dokument anzusehen sein sollte, so ist dieses elektronische Dokument auch allen an einem Asylverfahren Beteiligten in gleicher Weise als eine Einheit zur Verfügung zu stellen. Die Forderung der Justizverwaltung und des Bundesamtes gegenüber dem Rechtsanwalt, sich zu einer sinnvolleren Darstellung ein zusätzliches Programm zu installieren, dürfte darüber hinaus zu einem Verstoß gegen Art. 32 Abs. 1 lit b) DS-GVO führen, wonach die Fähigkeit, die Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Belastbarkeit der Systeme und Dienste im Zusammenhang mit der Verarbeitung auf Dauer von dem Verantwortlichen sicherzustellen ist. Denn es wird von dem Rechtsanwalt gefordert, ein Programm, blind zu installieren, dessen Funktionen nicht offengelegt und öffentlich zugänglich sind. Hinzu kommt, dass zur Funktionsfähigkeit von XJustiz wohl ein Windows Betriebssystem erforderlich ist, da das Programm nicht plattformunabhängig läuft und z.B. nicht unter einem Linux-Betriebssystem betrieben werden kann. Gerade im Hinblick auf die sog. Drittstaatenproblematik und möglicher Datenübermittlungen bei dem Windows Betriebssystem (Win10) in die USA, kann und darf von einem Rechtsanwalt so etwas nicht verlangt werden (siehe zu dem Problem Schrems II, EuGH, Urteil vom 16.07.2020, C-311/18, ECLI:EU:C:2020:559). Es würden ihm Probleme auferlegt, die er sonst ggf. nicht hätte.
29 Hinzu kommt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die unsortierte Ansammlung von PDF-Dokumenten bei Gericht anders dargestellt, wie bei dem Rechtsanwalt, so dass nicht "eine" Akte mit dem gleichen Inhalt und in gleicher Form sichergestellt ist und damit existiert. Dies ist ganz unabhängig von der Frage, was über die Bildschirmoberfläche bei der Behörde ansonsten noch zugänglich und an Informationen vorhanden ist und nicht vorgelegt wird.
30 Werden ordnungsgemäß geführte Akten nicht in der rechtsstaatlich geforderten Weise den Gerichten gegenüber offengelegt (dazu grundlegend schon VG Wiesbaden, Urteil vom 09. August 2017 – 6 K 808/17.WI.A), so wirken sich die damit ggf. einhergehenden Mängel hinsichtlich der Aufklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit des behördlichen Handelns zwar zulasten der aktenführenden Stelle aus (vgl. FG Düsseldorf, Urt. v. 07.03.2017 - 10 K 2424/15 Kg,AO, Rn. 33). Dies kann aber nicht im Sinne eines fairen Asylverfahrens sein. Vielmehr muss die gesamte Entscheidungsgrundlage (Akte) dem Gericht und dem Rechtsanwalt zur Verfügung stehen.
31 Nach der Überzeugung des vorlegenden Gerichts gebietet das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 GrCh, dass die von der Behörde vorzulegende Behördenakte - auch wenn sie in elektronischer Form geführt wird - so vorgelegt bzw. zugänglich gemacht wird, dass sie vollständig und durchpaginiert ist und damit Änderungen nachvollziehbar sind und diese dem entspricht, was bei der Behörde geführt wird.
32 Nur vollständig über den Akteninhalt informiert kann ein Rechtsanwalt seine Aufgabe gegenüber seinem Mandanten, dem Asylbewerber, aber auch gegenüber dem Gericht erfüllen. Insoweit regelt Art. 23 Abs. 1 Richtlinie 2013/32/EU, dass dem Rechteberater des Antragstellers Zugang zu den Informationen in der Akte des Antragstellers erhält. Dabei ist nicht von "Teil-"Informationen die Rede, so dass die Norm dahin zu verstehen ist, dass alle Informationen aus der Akte, die die Grundlage der Entscheidung und des Verfahrens bildet zugänglich zu machen ist. Den in dem Hauptsacheverfahren gestellten Antrag auf Akteneinsicht (6 K 2132/19.WI.A, Bl. 98), begehrt der Bevollmächtigte nun in dem vorliegenden Eilantrag durchzusetzen um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
33 Hinzu kommt, dass "Originale" dem Gericht nicht mehr vorgelegt werden. Nach Art. 11 RICHTLINIE 2013/32/EU, der durch § 31 Abs. 1 Satz 1 AsylG umgesetzt wurde, hat der Asylbescheid schriftlich zu ergehen. Allerdings sind die mit der Unterschrift des Entscheiders versehenen Originalbescheide einzuscannen und nach dem Einscannen zu vernichten (230 – 7510/07-16, Aktualisierung der DA’en AVS und Asyl – Abschaffung der Dokumentenmappe). Damit ist die original unterschriebene Entscheidung (der Bescheid) nicht mehr vorhanden, sondern es besteht nur noch eine elektronische Kopie.
34 Mit "schriftlich" dürfte nach Art. 11 Abs. 1 RICHTLINIE 2013/32/EU die eigenhändige Unterschrift des Entscheiders zu verstehen sein. Das nationale Recht regelt in § 126 Abs. 1 BGB mit der amtlichen Überschrift "Schriftform".
"Ist durch Gesetz schriftliche Form vorgeschrieben, so muss die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden."
35 Der EuGH hat zumindest mit Urteil vom 28.05.2020 (C-309/19P, EU:C:2020:401) ebenfalls die Auffassung vertreten, dass eine eingescannte Unterschrift keine Originalunterschrift darstellt und damit kein Original zur dortigen Akte gelangt ist. Vielmehr sei das Erfordernis der handschriftlichen Unterzeichnung gefordert worden und diese Unterzeichnung sei bei einem Scan als nicht gegeben anzusehen.
36 Die Unterschrift könnte allerdings auch durch eine qualifizierte elektronische Signatur erbracht werden (Art. 25 Abs. 2 VERORDNUNG (EU) Nr. 910/2014 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG). Diese gibt es aber bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht. Auch würde dann das Beifügen einer Signaturprüfung nicht genügen (EuGH, Urteil vom 28.05.2020,C-309/19P, EU:C:2020:401).
37 Insoweit vermag das Gericht eine "Schriftlichkeit" der Entscheidung über die Anerkennung beziehungsweise Ablehnung eines Asylbegehrens nicht zu erkennen, wenn von dem "Bescheid" durch das Einscannen lediglich eine Kopie hergestellt und das Organal vernichtet wird. Allenfalls dürfte nur von einer partiellen Schriftlichkeit gesprochen werden können. Dabei ist allerdings zweifelhaft, dass diese der von der RICHTLINIE 2013/32/EU geforderten Schriftlichkeit entspricht. Denn zum Zeitpunkt der Vorlage der Akte an das Gericht gibt es den "Bescheid" nur noch in kopierter Form. Kopien erwecken zwar den Rechtsschein, Abbild des Originals zu sein, ihre inhaltliche Unverfälschtheit steht jedoch nicht fest (vgl. Erlass des BMI, Zulässigkeit der Vervielfältigung von Personalausweis– und Reisepässen vom 29.03.2011, Az.: IT 4–64400/4#15).
38 Damit stellt sich die Frage, ob eine Kopie einer Entscheidung/eines Bescheides, welche die Grundlage für eine gerichtliche Überprüfung darstellt und letztendlich bei einer stattgebenden gerichtlichen Entscheidung überhaupt aufgehoben werden kann, da es den Originalbescheid nicht gibt oder ob in diesem Fall die Behörde immer zu einer schriftlichen Neuentscheidung zu verpflichten ist.
39 Wenn letzteres der Fall wäre, so bedürfte es vorliegend keiner irgendwie gearteten "Behördenakte" des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, da es ja keine schriftliche Entscheidung der Behörde gibt. In diesem Fall wäre der Antrag des Rechtsanwaltes, ihm eine vollständige Akte zugänglich zu machen abzulehnen und in dem Hauptsacheverfahren das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Neubescheidung mangels Vorliegens einer Entscheidung zu verpflichten. [...]