VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.07.2022 - 11 S 2378/21 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 31 ff.) - asyl.net: M31105
https://www.asyl.net/rsdb/m31105
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Abschiebung aus familiären Gründen:

1. Ein aus Art. 6 Abs. 1 GG folgender Anspruch auf Duldung aus familiären Gründen kann auch bestehen, wenn der vollziehbar ausreisepflichtige Elternteil in einem anderen Bundesland lebt als das Kind und der andere Elternteil. Das gilt insbesondere dann, wenn dieser Umstand asylverfahrensrechtliche Gründe hat und eine intensiv gelebte familiäre Gemeinschaft besteht, die durch wechselseitige Zuneigung, regelmäßigen Kontakt, gemeinsame Wahrnehmung elterlicher Aufgaben und Verantwortung sowie den Wunsch nach einem künftigen Zusammenleben geprägt ist.

2. Bei der Würdigung der Zumutbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahme ist von erheblicher Bedeutung, ob es dem Kind und dem anderen Elternteil möglich und zumutbar ist, die von der Maßnahme betroffenen Person ins Ausland zu begleiten oder ihr zeitnah dorthin zu folgen. Dies ist umso eher anzunehmen, je weniger der Aufenthalt des Kindes und des anderen Elternteils im Bundesgebiet gesichert ist und je größer die Möglichkeiten der Familie sind, ihre schutzwürdige Gemeinschaft nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet an einem anderen Ort unvermindert fortzuführen.

3. Wurde dem anderen Elternteil in einem anderen europäischen Staat (hier: Italien) die Flüchtlingseigenschaft hinsichtlich des Herkunftslands (hier: Nigeria) zuerkannt und verfügt das gemeinsame Kind über eine Aufenthaltsgestattung wegen eines hier noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens, ist es sowohl unzumutbar, die Familie auf das Zusammenleben im Herkunftsland zu verweisen, als auch auf das Zusammenleben in dem anderen europäischen Staat, wenn damit eine mehr als kurzzeitige Trennung verbunden ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 (Asylmagazin 4/2022, S. 132 ff.) - asyl.net: M30282)

Schlagwörter: Eltern-Kind-Verhältnis, Trennung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Duldung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Wohnsitzauflage,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AsylG § 55, VwGO § 123 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

5 b) Der beschließende Senat ist nach Würdigung des Vortrags der Beteiligten sowie der beigezogenen Gerichts- und Behördenakten zu der Überzeugung gelangt, dass dem Antragsteller ein Anordnungsanspruch zusteht. Es besteht ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit (vgl. zu diesem Maßstab in Fällen der Vorwegnahme der Hauptsache etwa OVG SH, Beschluss vom 20.05.2022 - 3 MB 28/21 - juris Rn. 13), dass der Antragsteller in einem auf die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerichteten Hauptsacheverfahren Aussicht auf Erfolg hätte. Denn nach Aktenlage spricht viel dafür, dass seine Abschiebung derzeit aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Sie wäre vermutlich mit Blick auf die Beziehung des Antragstellers zu seiner 2019 in Deutschland geborenen und hier auch wohnhaften Tochter mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht zu vereinbaren. Daher kann offen bleiben, ob auch Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EU-GRCharta der Abschiebung des Antragstellers entgegenstehen.

6 aa) Der beschließende Senat geht hier von folgenden Grundsätzen aus: Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörden und die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich ebenfalls im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. [...]

7 Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit der Familienmitglieder. Schutz genießt insbesondere die familiäre (Lebens-)Gemeinschaft zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind, die durch tatsächliche Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes geprägt ist. [...]

8 Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Hier ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 48). [...]

9 Die Zumutbarkeit einer auch nur vorübergehenden Trennung zwischen einem Elternteil und seinem Kind wird umso eher zu verneinen sein, je mehr davon auszugehen ist, dass hierdurch die emotionale Bindung des Kindes zu diesem Elternteil Schaden nimmt. [...]

11 Bei der Würdigung der Zumutbarkeit einer auf einen Elternteil bezogenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme für die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist von erheblicher Bedeutung, ob es dem Kind und dem anderen Elternteil möglich ist und zugemutet werden kann, den von der Maßnahme betroffenen Ausländer ins Ausland zu begleiten oder ihm zeitnah dorthin zu folgen. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je weniger der Aufenthalt des Kindes und des anderen Elternteils im Bundesgebiet gesichert ist und je weiter die Möglichkeiten der Familie gefächert sind, ihre schutzwürdige Gemeinschaft nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet an einem anderen Ort unvermindert fortzuführen. [...]

13 (1) Auf der Basis der vom Antragsteller glaubhaft gemachten Tatsachen geht der beschließende Senat davon aus, dass zwischen dem Antragsteller, seiner knapp dreijährigen Tochter und deren Mutter zwar keine häusliche Gemeinschaft besteht, wohl aber eine intensiv gelebte familiäre Gemeinschaft, die durch wechselseitige Zuneigung, regelmäßigen Kontakt, gemeinsame Wahrnehmung elterlicher Aufgaben und Verantwortung sowie dem Wunsch nach einem künftigen Zusammenleben geprägt ist. Die Tatsache, dass der Antragsteller in Baden-Württemberg wohnt, seine Tochter und deren Mutter hingegen in Bayern, ist ersichtlich nicht auf einen Willen der Eltern zurückzuführen, getrennt zu leben. Sie hat vielmehr asylverfahrensrechtliche Gründe. Denn der Antragsteller ist einem Wohnort in Baden-Württemberg zugewiesen, während seine Tochter und deren Mutter zur Wohnsitznahme in Bayern verpflichtet sind. Ein Umverteilungsantrag mit dem Ziel der Familienzusammenführung blieb bislang ohne Erfolg. [...]

16 Der Antragsgegner weist allerdings zu Recht darauf hin, dass den einwanderungspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland im vorliegenden Fall ebenfalls Gewicht zukommt. Denn sowohl der Antragsteller als auch die Mutter seiner Tochter sind unerlaubt ins Bundesgebiet eingereist. Beide, wie auch ihre gemeinsame Tochter, besitzen (allein) die nigerianische Staatsangehörigkeit. Kein Mitglied der Familie verfügt über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet. Der Antragsteller ist nach einem von ihm erfolglos betriebenen, inzwischen bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahren vollziehbar ausreisepflichtig. Auch die Asylverfahren seiner Tochter und deren Mutter sind bislang erfolglos verlaufen. Den Asylantrag der Mutter des Kindes hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unzulässig, denjenigen des Kindes als unbegründet abgelehnt. Die Asylverfahren sind allerdings noch nicht bestandskräftig abgeschlossen. Vielmehr sind laut einer Auskunft des Bundesamts vom 04.07.2022 in Bezug auf beide Verfahren Klagen beim Verwaltungsgericht München anhängig, über die noch nicht entschieden ist. Danach ist der Aufenthalt der Tochter des Antragstellers im Bundesgebiet derzeit gemäß § 55 AsylG gestattet. Die Mutter des Kindes wird geduldet.

17 (3) Auch unter Berücksichtigung des erheblichen einwanderungspolitischen Interesses der Bundesrepublik Deutschland, den unerlaubten Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet zeitnah zu beenden, zeichnet sich aus Sicht des beschließenden Senats deutlich ab, dass dem Antragsteller derzeit als Ergebnis eines Hauptsacheverfahrens gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Duldung zu erteilen wäre. Denn der Beendigung seines Aufenthalts im Bundesgebiet im Wege der Abschiebung dürfte Art. 6 Abs. 1 und 2 GG entgegenstehen. Die dem Antragsteller angedrohte Abschiebung würde für ihn und seine Tochter absehbar zu einer mehr als kurzzeitigen räumlichen Trennung führen, die dem Wohl des Kindes abträglich wäre und durch zumutbare Mitwirkungshandlungen der Mitglieder der Familie wohl auch nicht verhindert werden könnte.

18 Nach Lage der Dinge kommen als Zielstaaten einer Abschiebung des Antragstellers momentan wohl nur Nigeria sowie - allenfalls perspektivisch - Italien in Betracht. Der Tochter des Antragstellers wäre es angesichts ihrer nigerianischen Staatsangehörigkeit zwar rechtlich und eventuell auch tatsächlich möglich, gemeinsam mit dem Antragsteller nach Nigeria auszureisen und dort Aufenthalt zu nehmen. Dies ist ihr aber nicht zumutbar. Denn ihr Asylbegehren zielt darauf, ihr im Bundesgebiet Schutz vor Nachteilen zu gewähren, die sie in Nigeria möglicherweise zu erwarten hätte. Aus der asylverfahrensrechtlichen Gestattung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet (§ 55 AsylG) folgt unmittelbar, dass es ihr nicht zugemutet werden darf, zur Wahrung der familiären Gemeinschaft mit ihrem Vater in Nigeria in Verhältnissen zu leben, vor denen sie aktuell in der Bundesrepublik Deutschland Schutz sucht und genießt. Hinzu kommt, dass die Ausreise der Tochter des Antragstellers nach Nigeria absehbar zu einer mehr als kurzzeitigen Trennung von ihrer - sie ständig betreuenden - Mutter führen würde. Denn deren Asylbegehren wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unzulässig abgelehnt, weil ihr bereits in Italien in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. In Konsequenz wurde ihr bislang auch nicht die Abschiebung nach Nigeria, sondern nach Italien angedroht. Auch ihr dürfte es daher kaum zumutbar sein, zum Zwecke der Fortführung der familiären Gemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter nach Nigeria einzureisen und dort Aufenthalt zu nehmen.

19 Entgegen der Auffassung des Antragstellers dürfte sich eine mehr als kurzzeitige Trennung des Antragstellers von seiner Tochter auch nicht dadurch vermeiden lassen, dass die Mitglieder der Familie ihren gemeinsamen Aufenthalt künftig in Italien nehmen. [...] Denn es ist - soweit ersichtlich - bislang völlig ungeklärt, ob und mit welchen Maßgaben die zuständigen italienischen Stellen bereit wären, im Falle eines Zuzugs von Mutter und Tochter auch dem Antragsteller die Einreise und den Aufenthalt in Italien zu ermöglichen. Sollte ein solches Begehren des Antragstellers von Nigeria aus betrieben werden müssen, drängt es sich dem beschließenden Senat auf, dass eine mehr als kurzzeitige Trennung des Antragstellers von seiner Tochter vorprogrammiert wäre. Dies dürfte aber - wie gezeigt - beiden in der gegebenen Situation nicht zuzumuten sein. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers ist damit hinreichend wahrscheinlich.

20 Mit Blick auf die Grundrechte der Betroffenen aus Art. 6 GG und Art. 19 Abs. 4 GG ist damit die Anordnung der vorläufigen Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers geboten. Denn die Folgen einer Abschiebung, die sich später als rechtswidrig erwiese, wären gravierend, weil sie zu einer Trennung der Familie führte, ohne dass bislang absehbar wäre, über welchen Zeitraum diese Trennung andauerte. [...]

21 c) Der Antragsteller hat auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Es ist ihm nicht zumutbar, den Ausgang eines auf die Erteilung einer Duldung gerichteten Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Er muss vielmehr nach Lage der Dinge damit rechnen, noch vor dem rechtskräftigen Abschluss eines solchen Verfahrens abgeschoben zu werden. [...]