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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 (Asylmagazin 4/2022, S. 132 ff.) - asyl.net: M30282
https://www.asyl.net/rsdb/m30282
Leitsatz:

Verletzung des Grundrechts auf Schutz der Familie in Verfahren eines drittstaatsangehörigen Vaters aus sogenannter Patchwork-Familie:

1. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, die betroffene Person auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen.

2. Es ist jedoch unter stets unter Einbezug aller Umstände des Einzelfalls abzuwägen, ob die zu erwartende Trennungsdauer verhältnismäßig ist.

3. Diese Abwägung setzt zwingend eine umfassende Prognose für das Visumsverfahren voraus. Es ist darzulegen, auf welcher rechtlichen Grundlage eine Wiedereinreise erfolgen kann und mit welcher Dauer für das Visumsverfahren zu rechnen ist. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verfahrensduldung, Duldung, Visumsverfahren, Kleinkind, Nachholung des Visumsverfahrens, Prognose, Abwägung, Verhältnismäßigkeit, Bundesverfassungsgericht, Nigeria, Familie, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, EMRK Art 8,
Auszüge:

[...]

2. Der Beschwerdeführer hat zusammen mit seiner im Oberallgäu lebenden nigerianischen Lebensgefährtin zwei gemeinsame Kinder, die am (…) und am (…) geboren wurden. Die Mutter der Kinder hat zudem ein weiteres Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Daher sind sowohl die Lebensgefährtin als auch die beiden Kinder des Beschwerdeführers im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen. [...]

Ebenfalls am 28. Dezember 2020 suchte der Beschwerdeführer bei dem Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz nach und beantragte, die Ausländerbehörde zu verpflichten, den Beschwerdeführer vorläufig und bis zur Bestandskraft der Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG nicht abzuschieben und ihm eine Duldungsbescheinigung gemäß § 60a AufenthG auszustellen.

4. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit angegriffenem Beschluss vom 11. Februar 2021 ab.

Es bestehe kein Anordnungsanspruch. Die vom Beschwerdeführer dargelegten Gründe genügten insbesondere nicht für die Annahme, dass die Ausreise beziehungsweise Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich wäre, wie es § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG und § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG voraussetzten. Die Feststellung allein, der Beschwerdeführer habe (möglicherweise) einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Daueraufenthalt zur Ausübung der Personensorge für seine Kinder, führe noch nicht zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Soweit die Nachholung des Visumverfahrens im Ausland erforderlich sei, sei dessen Durchführung nicht von vorneherein unzumutbar, auch wenn es mit einer vorübergehenden Trennung der Familie verbunden sei. Zudem sei davon auszugehen, dass ein eventuell bestehendes Daueraufenthaltsrecht des Beschwerdeführers aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes seiner familiären Bindungen im Bundesgebiet auch bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der außergewöhnlichen Härte und der Ausübung des Ermessens im Rahmen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG durchgreifen müsse, soweit eine schützenswerte familiäre Gemeinschaft vorliege und diese nur im Bundesgebiet gelebt werden könne.

5. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein. Erstmals im Beschwerdeverfahren beantragte er, ihm in der Duldung sein Recht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu bescheinigen. [...]

6. Die Beschwerde wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (im Folgenden: Verwaltungsgerichtshof) mit Beschluss vom 24. Juni 2021 zurück. Der Verwaltungsgerichtshof legte die Beschwerde dahingehend aus, dass der Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG beziehungsweise eine einstweilige Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG sowie § 25 Abs. 5 AufenthG begehre, außerdem eine einstweilige Beschäftigungserlaubnis nach § 4a Abs. 4 AufenthG in Verbindung mit § 32 Abs. 1 der Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern (im Folgenden: BeschV). Die so verstandenen, zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden seien unbegründet. Ein Anordnungsanspruch sei jeweils nicht genügend dargelegt und glaubhaft gemacht. [...]

Der Beschwerdeführer hat am 28. Juli 2021 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er rügt die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG, das ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfalte und dazu verpflichte, bei Entscheidungen über ein Aufenthaltsbegehren bestehende familiäre Bindungen des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen. [...]

2. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 2021, dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung sowie eine einstweilige Verfahrensduldung zu versagen, verletzt diesen in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG.

a) aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <47>; BVerfGK 7, 49 <54 f.>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, Rn. 12 m.w.N.). Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen das durch Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte private Interesse eines Ausländers und seines Kindes an der Aufrechterhaltung der zwischen ihnen bestehenden Lebensgemeinschaft nicht ohne weiteres schon deshalb, weil der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat, wenn durch das nachträgliche Entstehen der von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft eine neue Situation eingetreten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11).

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfGK 7, 49 <56>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, Rn. 17, und vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, Rn. 13).

bb) Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfGK 13, 26 <27 f.>). Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. BVerfGK 13, 562 <567>).

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465> in Bezug auf eine Abschiebung wegen fehlenden Aufenthaltstitels; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - in Bezug auf eine Ausweisung).

cc) Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle muss dem Rang und der Bedeutung Rechnung tragen, die das Grundgesetz der Familie in ihren verschiedenen Gestaltungsformen und Funktionen als einem gegen den Staat abgeschirmten und die Vielfalt der Freiheitskonkretisierungen schützenden Autonomiebereich beimisst (vgl. BVerfGE 76, 1 <51 ff.>; 80, 81 <93 f.>). Bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen prüft das Bundesverfassungsgericht daher, ob die notwendige Abwägung stattgefunden hat und ob Grundlage und Abwägungsergebnis dem sich aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ergebenden Gebot gerecht werden, die ehelichen und familiären Bindungen in angemessener Weise zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <50 f.>).

b) Daran gemessen hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Frage, ob dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung auf der Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen ist, die möglichen Beeinträchtigungen von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend berücksichtigt. Der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer einen Anordnungsanspruch nicht in genügender Weise glaubhaft gemacht und insbesondere nicht aufgezeigt habe, dass die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene Trennung für ihn un- zumutbar wäre. Das genügt angesichts der bestehenden einfachrechtlichen Ungewissheiten nicht, um die Zumutbarkeit der Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie infolge der Abschiebung – insbesondere aus der Perspektive seiner Kinder – in verfassungsmäßig tragfähiger Weise zu beurteilen.

aa) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs erweist sich bereits deshalb als verfassungsrechtlich unzureichend, weil sie nicht auf einer gültigen Prognose beruht. Sie begründet nicht hinreichend, warum die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für den Beschwerdeführer und seine Kinder zur Folge habe.

(1) Eine solche Begründung war von Verfassungs wegen geboten. Die Fachgerichte können von ihr lediglich absehen, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG vereinbar ist, dem Ausländer und seinem Kind die Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in zumutbarer Weise gelebt werden kann (vgl. BVerfGK 13, 562 <567 f.> sowie Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2003 - 2 BvR 1064/03 -, juris, Rn. 6 f.) oder weil die dauerhafte Trennung der Familie ausnahmsweise zumutbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11 f.). Eine derartige Feststellung hat der Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Fall jedoch nicht getroffen.

(2) Der Verwaltungsgerichtshof geht vielmehr davon aus, dass eine dauerhafte Trennung nicht zu erwarten sei, und begründet dies lediglich mit dem Argument, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG ein Visum erteilt werden könne. Dass dessen Erteilung an hohe Hürden gebunden ist und die Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte voraussetzt, wofür die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (vgl. BVerwGE 147, 278 <281 f. Rn. 11 ff.>; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 2016 - 2 BvR 748/13 -, juris, Rn. 13), findet in der Prognose des Verwaltungsgerichtshofs jedoch keinen Niederschlag. [...]

Die Erteilung des Visums nach § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 36 Abs. 2 AufenthG liegt vor diesem Hintergrund im Ermessen der zuständigen Behörde, vorliegend des Generalkonsulats in Lagos. Neben den Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG müssen in der Regel auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Die zuständige Behörde könnte die Erteilung des Visums versagen, weil sie das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG verneint, etwa weil sie zum Ergebnis kommt, dass die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland auch mit dem deutschen Kind der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers fortgeführt werden kann (dazu vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15/12 -, juris, Rn. 14 ff.; kritisch hierzu Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 36 AufenthG Rn. 26), oder sie das Vorliegen einer Regelerteilungsvoraussetzung, etwa die Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9/12 -, juris, Rn. 23), verneint. Zwar kann bei Vorliegen eines Ausnahmefalls von einer Regelerteilungsvoraussetzung abgesehen werden (vgl. Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 AufenthG Rn. 8 ff.). Ein solcher Ausnahmefall liegt auch dann vor, wenn etwa wegen Art. 6 GG die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug geboten ist (vgl. BVerfGK 11, 179 <186>; BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32/07 -, juris, Rn. 27 ff.); allerdings muss nach der Rechtsprechung einzelner Oberverwaltungsgerichte auch dann das in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG normierte Wohnraumerfordernis erfüllt sein (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018 - OVG 3 B 8.18 -, juris, Rn. 26 ff.). Diese Unwägbarkeiten vermindern die Wahrscheinlichkeit, dass dem Beschwerdeführer auch tatsächlich ein Visum erteilt wird, und müssen daher Eingang in die vom Verwaltungsgerichthof anzustellende Prognose finden.

bb) Zudem fehlt die Berücksichtigung des Umstands, dass – falls der Beschwerdeführer nicht freiwillig ausreist und abgeschoben werden muss – das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem Bescheid vom 31. Juli 2017 ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung verfügt hat. Nach gegenwärtigem Stand würde sich dieses Verbot auf die zu erwartende Trennungszeit auswirken und auch die Zumutbarkeitsschwelle für den Beschwerdeführer und seine Kinder verschieben.

cc) Schließlich beruht die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs hinsichtlich der zu erwartenden Dauer des Visumverfahrens auf keiner gültigen Prognose.

(1) Dabei kann offenbleiben, ob die Annahme einer "circa" fünfwöchigen Bearbeitungsdauer in der Auskunft der Visaabteilung der Auslandsvertretung eine hinreichende Stütze findet. Denn hiernach nimmt die Bearbeitung "mindestens fünf Wochen" nur für den Fall in Anspruch, dass eine Urkundenüberprüfung entbehrlich ist. Angesichts der Aliasidentitäten des Beschwerdeführers liegt dies nicht unbedingt nahe.

(2) Jedenfalls ist die Prognose über die zu erwartende Dauer unvollständig. Die tatsächliche Dauer des Visumverfahrens, einschließlich der durchzuführenden Urkundenüberprüfung, hängt – worauf die Auslandsvertretung hinweist – entscheidend von der Mitwirkung des Ausländers ab. Eine fehlende Mitwirkung kann daher auch längere Wartezeiten rechtfertigen. Zudem würde es die Erkenntnisfähigkeit von Behörden und Gerichten überfordern, bei der Prognose über die Dauer des Visumverfahrens und der damit verbundenen Trennung des Ausländers von seinem in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kind eine präzise Vorstellung davon zu entwickeln, mit welcher Trennungszeit tatsächlich im Falle der Duldungsversagung zu rechnen wäre, wenn der Ausländer nicht das in seiner Sphäre Liegende beiträgt, um das Verfahren zu betreiben und zu einem zeitnahen Abschluss zu bringen.

Dies in Rechnung gestellt, blendet der Verwaltungsgerichtshof bei seiner Prognose über die Dauer des Visumverfahrens jedoch aus, dass die – womöglich nicht belastbaren – fünf Wochen erst mit Antragstellung beginnen. Diese setzt nach der Praxis der Auslandsvertretungen einen Termin voraus, den der Beschwerdeführer derzeit nicht hat und für den die regelmäßige Wartezeit laut Auskunft der Auslandsvertretung circa ein Jahr beträgt. Eine Vorabzustimmung ist bisher nicht erteilt.

Dass der Beschwerdeführer Einfluss darauf hat, rechtzeitig einen Termin bei der Auslandsvertretung zu vereinbaren, die Vorabzustimmung zu erreichen und durch freiwillige Ausreise dem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu entgehen beziehungsweise auf dessen Verkürzung nach § 11 Abs. 4 AufenthG hinzuwirken, mögen Aspekte sein, die sich in der Abwägungsentscheidung zu Lasten des Beschwerdeführers auswirken können. Dies entbindet den Verwaltungsgerichtshof jedoch nicht davon, eine Vorstellung zu entwickeln und eine gültige Prognose darüber anzustellen, mit welcher Trennungszeit der Beschwerdeführer im Fall der Duldungsversagung voraussichtlich tatsächlich zu rechnen hätte. [...]