OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 22.09.2022 - 4 LB 6/21 - asyl.net: M30989
https://www.asyl.net/rsdb/m30989
Leitsatz:

Passbeschaffung für subsidiär schutzberechtigte Person aus Eritrea unzumutbar:

1. Die Passbeschaffung ist gemäß § 5 Abs. 1 AufenthV jedenfalls unzumutbar, wenn die Verbindung zwischen der subsidiär geschützten Person und und dem Herkunftsland deshalb aufgehoben ist, weil die Person bei Rückkehr in das Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer gezielt vom Staat ausgehenden menschenrechtswidrigen Behandlung oder Bestrafung gemäß Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Nach Art. 2f QRL (RL 2011/95/EU) umfasst die Zuerkennung subsidiären Schutzes die Feststellung, dass die Person den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder in begründeter Weise nicht in Anspruch nehmen will. 

2. An den vom BAMF festgestellten Sachverhalt hinsichtlich eines drohenden bzw. bereits erlittenen ernsthaften Schadens gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG aufgrund vom Staat ausgehender menschenrechtswidriger Behandlung oder Bestrafung sind Ausländerbehörden und Gerichte gemäß § 6 S. 1 AsylG gebunden.

3. Ist die innere Haltung einer subsidiär schutzberechtigten Person gegenüber ihrem Herkunftsstaat aus objektiv nachvollziehbaren Gründen durch Ablehnung gekennzeichnet, ist ihr ebenso wenig zuzumuten, sich an die Botschaft des Herkunftslandes zu wenden, als wäre sie als Flüchtling anerkannt worden. Denn sie müsste sich freiwillig dem Schutz des Staates unterstellen, der sie zuvor ausgegrenzt hat. Hinzu kommt, dass sie die an die Antragstellung geknüpften Bedingungen (in Eritrea u.a. "Diaspora-Steuer" und "Reueerklärung") akzeptieren und sich dem eritreischen Staat gegenüber formal loyal zeigen müsste, was einer erneuten Unterschutzstellung gleichkommt.

4. Auf der Rechtsfolgenseite ist das üblicherweise bestehende Ermessen gemäß § 5 Abs. 1 AufenthV aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung im Hinblick auf Art. 25 QRL in einem solchen Fall dergestalt reduziert, dass ein Reiseausweis für Ausländer zu erteilen ist, soweit nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

(Leitsätze der Redaktion; beachte die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des BVerwG, Urteil vom 11.10.2022 - 1 C 9.21 - asyl.net: M30993)

Schlagwörter: Eritrea, Reiseausweis für Ausländer, subsidiärer Schutz, Qualifikationsrichtlinie, Unzumutbarkeit der Passbeschaffung, Diapsora-Steuer, Reueerklärung, Nationaldienst, Passpflicht, Passbeschaffung,
Normen: AufenthV § 5, AsylG § 6 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, RL 2011/95/EU Art. 2f, RL 2011/95/EU Art. 25
Auszüge:

[...]
dd. Von einer Unzumutbarkeit i.S.d. § 5 Abs.1 AufentV geht der Senat deshalb jedenfalls dann aus, wenn die Verbindung zwischen dem betroffenen Ausländer als subsidiär Geschütztem und seinem Herkunftsland deshalb aufgehoben ist, weil er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer gezielt vom Staat ausgehenden menschenrechtswidrigen Behandlung oder Bestrafung i.S.d. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Denn dies beinhaltet nach Art. 2f QRL zugleich die Feststellung, dass er deshalb den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr in begründeter Weise nicht in Anspruch nehmen will. So liegt es auch hier.

(1) Unter Berücksichtigung des Ergebnisses der beiden im Asylverfahren durchgeführten Anhörungen und des auf dieser Grundlage vom Bundesamt durch bestandskräftigen Bescheid vom 14. Mai 2018 festgestellten Sachverhalts ist davon auszugehen, dass der Kläger in diesem Einzelfall in seinem Herkunftsland bereits eine vom Staat ausgehende menschenrechtswidrige Behandlung oder Bestrafung i.S.d. Art. 3 EMRK erlitten hat. [...]

An dem vom Bundesamt festgestellten Sachverhalt sind der Beklagte und das Gericht gemäß § 6 Satz 1 AsylG gebunden. [...]

(2) Auf der Grundlage der vom Bundesamt verbindlich getroffenen Feststellungen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nochmals erläutert, warum er die Verbindung zwischen sich und seinem Herkunftsland Eritrea als aufgehoben ansieht und er sich nicht in der Lage sieht, sich an die Botschaft zu wenden und dort zu den vom eritreischen Staat aufgestellten Bedingungen einen Nationalpass zu beantragen. [...]

Dies zeigt zur Genüge, dass die innere Haltung des Klägers seinem Herkunftsstaat gegenüber aus objektiv nachvollziehbaren Gründen weiterhin durch Ablehnung gekennzeichnet ist. Ihn dennoch anzuhalten, sich an die eritreische Botschaft zu wenden, um einen Nationalpass zu beantragen, ist ihm ebenso wenig zuzumuten wie einem anerkannten Flüchtling. Der Kläger müsste sich mit seinem Begehren an die Vertretung gerade des Staates wenden, indem er bereits eine menschenrechtswidrige Behandlung und Bestrafung erfahren hat und der ihm weiter mit einer solchen Behandlung oder Bestrafung droht sowie ihm den staatlicherseits geschuldeten und gebotenen Schutz gerade vorenthält. Er müsste sich dem Schutz des Staates freiwillig unterstellen, der ihn zuvor ausgegrenzt hat. Ob dies auch vielen anderen Eritreern und Ertitreerinnen so geht, die sich ihrer Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes entzogen haben und illegal ausgereist sind, macht für den Kläger jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang keinen Unterschied (vgl. VG Aachen, Urt. v. 10.06.2020 - 4 K 2580/18 -, juris Rn. 40).

(3) Hinzu kommt, dass der Kläger die an die Antragstellung geknüpften Bedingungen des eritreischen Staates akzeptieren und sich diesem gegenüber formal als loyal zeigen müsste. Auch dies käme einer erneuten Unterschutzstellung gleich (VGH München, Beschl. v. 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 -, juris Rn. 12).

(a) Er müsste, wie alle im Ausland wohnhaften Eritreer und unabhängig davon, ob er das Land legal oder illegal verlassen hat, 2% seines Einkommens (d.h. Lohn oder staatliche Wohlfahrtsleistungen) als "Rehabilitation and Reconstruction Tax" (RRT), umgangssprachlich als 2%- oder, Diaspora-Steuer bezeichnet, bei der zuständigen Auslandsvertretung bezahlen, bevor er deren Dienstleistung in Anspruch nehmen darf. [...]

(b) Darüber hinaus müsste der Kläger das von der Botschaft vorgehaltene "Formular 4/4.2" ausfüllen und unterschreiben, das umgangssprachlich als. "Reueschreiben" bekannt ist und offiziell den Titel "Immigration and Citizenship Services Request Form" trägt. In diesem Formular ist eine Passage enthalten, nach der es der Antragsteller bedauert, einen Gesetzesverstoß begangen zu haben, indem er seine nationale Pflicht bzw. seine Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes nicht erfüllt hat und wonach er die dafür vorgesehene Strafe akzeptiert. Ob dies nur Eritreer betrifft, die sich durch eine illegale Ausreise dem Nationaldienst entzogen haben [...] oder unterschiedslos alle, die ihr Heimatland illegal verlassen und schon damit ihre nationalen Pflichten verletzt haben [...], kann im Fall des Klägers dahinstehen, da auf ihn beides zutrifft. Unbestritten hat er sich durch die Ausreise dem weiteren Nationaldienst entzogen. Die Ausreise war damit zwangsläufig illegal, da die Dienstpflicht für Männer seit der Mobilmachung bis zum 50. Lebensjahr dauert und der Kläger deshalb kein Ausreisevisum erhalten hätte (Ausw. Amt, Lagebericht v. 03.01.2022, S. 14, 27). Dementsprechend kann mit dem OVG Lüneburg zwar davon ausgegangen werden, dass faktisch jeder im dienstpflichtigen Alter ausgereiste Eritreer die Reueerklärung zu unterzeichnen hat (Urt. v. 18.03.2021 - 8 LB 97/20 - juris Rn. 45, 49). Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Unterzeichnung auch solchen Eritreern zumutbar ist, denen der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist, weil ihnen im Falle der Rückkehr eine staatlich veranlasste menschenrechtswidrige Behandlung oder Bestrafung droht. Von einem "nicht ernsthaft belastenden Inhalt" und dem Fehlen "objektiv nachteiliger Folgen" (so aber OVG Lüneburg Urt. v. 18.03.2021 - 8 LB 97/20 - juris Rn. 54 ff.) kann schon aus den unter (1) und (2) beschriebenen Umständen nicht ausgegangen werden. Ob mit der Unterzeichnung der Reueerklärung die unfreiwillige Selbstbezichtigung einer Straftat und damit ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG einhergeht, bedarf deshalb keiner Entscheidung mehr.

2. In der Rechtsfolge steht dem Beklagten nach § 5 Abs. 1 AufenthV zwar ein Ermessen zu. Ermessensreduzierende Gründe wie die in § 5 Abs. 3 und 4 AufenthV genannten liegen nicht vor. Handelt es sich bei dem antragstellenden Ausländer um einen subsidiär Schutzberechtigten, ist diese nationale Vorschrift in Hinblick auf die Regelung des Art. 25 Abs. 2. QRL jedoch richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass ein Reiseausweis für Ausländer zu erteilen ist, soweit nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Letzteres ist nicht der Fall. [...]