BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 11.10.2022 - 1 C 9.21 (Asylmagazin 4/2023, S. 100 ff.) - asyl.net: M30993
https://www.asyl.net/rsdb/m30993
Leitsatz:

Passbeschaffung für eritreische Staatsangehörige wegen Erfordernis einer "Reueerklärung" unzumutbar:

1. Subsidiär Schutzberechtigten ist es anders als anerkannten Flüchtlingen grundsätzlich zumutbar, einen Passantrag bei den Behörden des Herkunftsstaates zu stellen. Es kann hier offen bleiben, ob schon etwas anderes gilt, wenn der subsidiäre Schutzstatus aufgrund gezielter Bedrohungen durch staatliche Behörden zuerkannt worden ist.

2. Die Abgabe der von eritreischen Behörden bei Passbeantragung geforderten Reueerklärung ist unzumutbar, wenn Betroffene plausibel bekunden, die Erklärung nicht abgeben zu wollen. Denn bei der Reueerklärung handelt es sich um die Selbstbezichtigung einer Straftat ("illegale Ausreise") und angesichts der willkürlichen und menschenrechtswidrigen Strafverfolgungspraxis in Eritrea müssen Betroffene kein noch so geringes Risiko der Strafverfolgung eingehen.

3. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthV vor, haben subsidiär Schutzberechtigte Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises. Zwar steht die Erteilung grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörden ("kann ... ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden"), allerdings ist dieses Ermessen hinsichtlich subsidiär Schutzberechtigter in richtlinienkonformer Auslegung mit Blick auf Art. 25 Abs. 2 QRL (RL 2011/95/EU) auf Null reduziert.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Reiseausweis für Ausländer, Eritrea, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Reueerklärung, Zumutbarkeit, Diasporasteuer, Anspruch, staatsbürgerliche Pflicht, Mitwirkungshandlung, Botschaft, Auslandsvertretung, Qualifikationsrichtlinie
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, AufenthG § 3 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 25 Abs. 2, AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 2, AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

7 Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger könne einen eritreischen Nationalpass auf zumutbare Weise erlangen, verletzt § 5 AufenthV (§ 137 Abs. 1 VwGO). Dem Kläger ist es entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts jedenfalls nicht zuzumuten, die für die Erlangung eines Nationalpasses erforderliche Reueerklärung abzugeben (1.). [...]

10 Die Entscheidung über die Zumutbarkeit erfordert eine Abwägung der Interessen des Ausländers unter Beachtung seiner Grundrechte und der Werteordnung des Grundgesetzes einerseits mit den staatlichen Interessen, insbesondere der dadurch geforderten Rücksichtnahme auf die Personalhoheit des Herkunftsstaates, andererseits. [...]

11 Im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Reiseausweises verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates und die zu berücksichtigenden zwischenstaatlichen Belange, die als Bestandteil der öffentlichen Ordnung in dem vorgenannten Sinne anzusehen sind, ist der Ausländer grundsätzlich gehalten, sich bei den Behörden seines Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen. [...]

12 1.1 Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass ein Ausnahmefall nicht allein deshalb vorliegt, weil es sich bei dem Antragsteller um einen subsidiär Schutzberechtigten handelt. Auch subsidiär Schutzberechtigten ist es nicht schon allein wegen des ihnen zuerkannten Schutzstatus unzumutbar, bei der Auslandsvertretung ihres Herkunftsstaates einen nationalen Pass zu beantragen. [...]

16 1.2 Der Senat kann offenlassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist (vgl. etwa Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 4 AsylG Rn. 90; ders., Handbuch zum Flüchtlingsschutz: Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, § 57 Rn. 12; VG Aachen, Urteil vom 10. Juni 2020 - 4 K 2580/18 [ECLI:DE:VGAC: 2020:0610.4K2580.18.00] - juris Rn. 40; in anderem Zusammenhang auch BT-Drs. 19/10047 S. 38) oder ob auch in dieser Fallgruppe für eine Unzumutbarkeit weitere Umstände hinzutreten müssen [...]. Denn dem Kläger ist die Passbeschaffung jedenfalls deshalb nicht zuzumuten, weil sein Herkunftsstaat die Ausstellung an eine Bedingung knüpfen wird, deren Erfüllung ihm nicht abverlangt werden kann (siehe unter 1.3).

17 1.3 Es ist dem Kläger nicht zumutbar, die sogenannte Reueerklärung abzugeben, von deren Unterzeichnung die eritreische Auslandsvertretung die Ausstellung eines Passes abhängig machen würde. Dabei handelt es sich nach den für den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) um einen aus zwei Sätzen bestehenden, zu unterschreibenden Passus am Ende des Formulars "4/4.2" mit dem Titel "Immigration and Citizenship Services Request Form", in dem der Erklärende bedauert, seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und erklärt, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren (UA S. 14 f.). [...]

24 aa) Die für die Passerteilung geforderte Erklärung, unter Verletzung der nationalen Pflichten illegal ausgereist zu sein und eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren, ist unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, weder eine nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine "zumutbare staatsbürgerliche Pflicht" im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV. [...]

28 Angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgungspraxis, die das Berufungsgericht selbst dem eritreischen Staat attestiert hat (UA S. 20, 22, 24), kann ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer derartigen Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht zumutbar verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung – wie das Berufungsgericht für den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend festgestellt hat – die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr muss der Ausländer unter den beschriebenen Umständen kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und ist allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig. Die willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis mindert auf der anderen Seite zugleich die Schutzwürdigkeit der Personalhoheit des eritreischen Staates, die in der Abwägung hier zurücktreten muss.

29 Aus diesen Gründen kommt es auch nicht darauf an, dass der Kläger infolge des ihm zuerkannten subsidiären Schutzes derzeit nicht nach Eritrea zurückkehren muss. Deshalb bedarf die asylrechtliche Frage, ob die durch Abgabe der Reueerklärung und Zahlung der sogenannten Aufbausteuer (unter Umständen) bewirkte Erlangung des "Diaspora-Status" hier zu einem Widerruf des subsidiären Schutzes gemäß § 73b Abs. 1 Satz 1 AsylG führen kann, keiner Vertiefung.

30 Zu keiner anderen Entscheidung führt die Feststellung des Berufungsgerichts, dass sich eritreische Staatsangehörige nach Abwägung der Vor- und Nachteile nicht selten freiwillig zu einer Unterzeichnung der Reueerklärung bereitfinden. Dies ändert nichts daran, dass einem Eritreer, der die Erklärung gerade nicht abgeben will und dafür konsequenterweise die Unmöglichkeit von Reisen in sein Herkunftsland in Kauf nimmt (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthV), die Unterzeichnung individuell nicht zuzumuten ist.

31 bb) Der Kläger erfüllt die subjektive Voraussetzung für eine Unzumutbarkeit der Reueerklärung. Er hat plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich aus seinem Vortrag, dass die Abgabe der Reueerklärung im Widerspruch zu seiner inneren Einstellung steht und dass sie seiner Auffassung von guter politischer Ordnung und sozialer Gerechtigkeit zuwiderliefe; er lehne den eritreischen Staat und die Möglichkeit einer "Bereinigung der Verhältnisse" durch die Beantragung des Diaspora-Status ab (UA S. 19 f.). Weitergehende Anforderungen sind an die Plausibilisierung der Weigerung nicht zu stellen; insbesondere bedarf es nicht der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung oder einer unauflöslichen inneren Konfliktlage. [...]

34 Die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer sind erfüllt (s. o.). Tatbestände, die der Ausstellung entgegenstehen, liegen nicht vor. [...]

35 Sind mithin alle – positiven wie negativen – Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer gegeben, ist der Beklagte verpflichtet, dem Kläger einen solchen zu erteilen. Nach § 5 Abs. 1 AufenthV steht die Erteilung des Ausweises zwar grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist dieses Ermessen jedoch in richtlinienkonformer Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthV auf Null reduziert, wenn auch die in Art. 25 Abs. 2 letzter Halbs. RL 2011/95/EU erwähnte Ausnahme nicht eingreift. Denn die Regelung verpflichtet die Mitgliedstaaten, Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung entgegenstehen. [...]