VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 27.01.2022 - 1 K 2418/19.A - asyl.net: M30882
https://www.asyl.net/rsdb/m30882
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung eines türkischen Staatsangehörigen wegen Nähe zur Gülen-Bewegung:

1. Die nur vereinzelte Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung sowie das vereinzelte Erwerben von Zeitungen, die der Gülen-Bewegung zuzuordnen sind, begründen keine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung durch den türkischen Staat. 

2. Sofern Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung in der Türkei drohen sollte, handelt es sich dabei um die Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht und nicht um politische Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Magdeburg, Urteil vom 05.03.2021 - 7 A 8/18 MD - asyl.net: M29760; VG Berlin, Urteil vom 29.01.2021 - 37 K 13/20 A - asyl.net: M29483)

Schlagwörter: Türkei, Gülen, Gülen-Bewegung, Wehrdienstentziehung, Wehrdienstverweigerung, Militärdienst,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Soweit der Kläger somit eine verfahrensrelevante Gefährdung seiner Person befürchtet, weil der türkische Staat in ihm einen „Gülenisten“ oder ihn der Gülen-Bewegung nahe stehend sehen könnte, vermag das Gericht dieser Auffassung nicht zu folgen. Zwar besteht nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Juni 2021 (Stand: April 2021, im Folgenden: Lagebericht), S. 4, 7 f., die Gefahr systematischer Verfolgung mutmaßlicher Anhänger dieser Bewegung durch den türkischen Staat, indes bietet das Vorbringen des Klägers nebst vorgelegter Unterlagen keine tragfähige Grundlage für die Annahme einer derartigen Verfolgungsgefahr im konkreten Einzelfall des Klägers.

Der Lagebericht führt insoweit aus, dass die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung andauert und die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft hierbei recht vage sind. In der Regel reiche eines der nachfolgenden Kriterien aus, um eine Strafverfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten:

- Nutzen der Kommunikations-App Bylock,

- Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25. Dezember 2013,

- Abonnement von Cihan oder der Zeitung Zaman,

- Spenden an zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen,

- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder,

- Kontakte zu Gülen zugeordneter Gruppen, Organisationen, Firmen (inkl. abhängiger Beschäftigung),

- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.

In der Regel erschöpft sich der Vorwurf jedoch nicht in dem Vorhalt einer dieser Indizien, sondern in einer Kumulation mehrerer. Die Wahrscheinlichkeit zu „FETÖ“ zugeordnet zu werden, ist umso höher, je mehr Indizien bei einer Person zutreffen. [...]

Nach Auffassung des Gerichts lässt sich hieraus indes nicht schließen, dass stets bei Vorliegen eines der oben genannten oder weiterer Indizien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfahren eingeleitet werden. Das Gericht geht davon aus, dass nicht jede Person, die nur eines der in diesem Zusammenhang bestehenden Indizien verwirklicht, automatisch als Gülen-Anhänger in der Weise in das Visier des türkischen Staates gerät, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzstatus vorliegen. Somit ist es letztlich eine Frage des Einzelfalls, ob mutmaßliche Gülen-Anhänger Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben.

Vorliegend ist insoweit von Bedeutung, dass der Kläger nur eines der bezeichneten Indizien verwirklicht, nämlich die Teilnahme an religiösen Versammlungen, sog. Sohbets (dt.: Gespräche). Allerdings hat er nach seinen eigenen Angaben nur einige wenige Male als Oberschüler an solchen Treffen teilgenommen, nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vier bis fünf Mal. Weitere Merkmale sind in der Person des Klägers nicht verwirklicht. Er hat zwar in der Zeit seiner Kontakte mit Anhängern der Gülen-Bewegung Zeitungen und Zeitschriften, die der Gülen-Bewegung zuzuordnen sind (Zaman und Sızıntı) gelesen und hin und wieder auch Einzelexemplare gekauft. Ein entsprechendes Abonnement hat er indes nicht bezogen. Mit dem Eintritt in die Ausbildung an der Militärschule brach sein Kontakt zu Mitgliedern der Gülen-Bewegung ab. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung war ihm klar, dass man sich dort von politischer oder religiöser Aktivität fernzuhalten hatte. Eine Kontaktaufnahme mit Gülen-Anhängern lag ihm insoweit in dieser Zeit fern. Auch an seinem „freien Tag“, einmal in der Woche, suchte er keinen Kontakt zu Gülen-Anhängern und hatte solche Kontakte auch nicht [...]

Soweit eine Strafverfolgung des Klägers wegen Wehrdienstentziehung möglich sein sollte, droht schließlich auch keine flüchtlingsrechtsrelevante Vorgehensweise der türkischen Behörden oder der türkischen Justiz; besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i. S. v. § 3b AsylG oder an der Volkszugehörigkeit orientiert ist, mithin ein „Politmalus“ oder „Religionsmalus“ zum Tragen kommt. Die Heranziehung zum Wehrdienst und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung stellen in der Türkei daher keine politische Verfolgung dar. Insoweit ist die die Wehrdienstentziehung betreffende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von besonderer Bedeutung, in der es heißt (Urteil vom 6. Februar 2019 - 1 A 3.18 -, juris Rn. 98):

„Auch eine etwaig drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist nicht schon für sich genommen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung. Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen.“ [...]