VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 08.07.2022 - 4 K 471/21.A - asyl.net: M30863
https://www.asyl.net/rsdb/m30863
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Person mit Bluthochdruck aus Venezuela:

1. Das Leben der Menschen in Venezuela wird von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage geprägt, außerdem von prekären humanitären Gegebenheiten sowie einer schlechten Sicherheitslage. Die wirtschaftliche und medizinische Versorgungslage hat sich in Venezuela seit März 2020 in Folge der Covid-19-Pandemie weiter verschlechtert.

2. Die medizinische Versorgungslage ist desolat. Der öffentliche Gesundheitssektor ist nicht mehr in der Lage, Kranke adäquat zu versorgen oder notwendige Operationen durchzuführen. Auch im privaten Sektor sind massive Mangelerscheinungen zu beobachten. Viele Medizinprodukte und Medikamente sind auch dort nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt erhältlich.

3. Ein an bösartigem Bluthochdruck leidender, alleinstehender Mann wird voraussichtlich nicht in der Lage sein, sich auf dem angespannten venezolanischen Arbeitsmarkt so weit durchzusetzen, dass er angesichts der hohen Inflationsrate und der sehr hohen Lebensmittelpreise ein Einkommen erzielen kann, das seinen Lebensunterhalt sichert.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging nach Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, vorgehend: VG Leipzig, Urteil vom 09.01.2020 - 4 K 2354/18.A - asyl.net: M28565)

Schlagwörter: Venezuela, Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung, Attest, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, Bluthochdruck, Hypertonie,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 5, VwVfG § 48, VwVfG § 49
Auszüge:

[...]

Geprägt wird das Leben der Menschen in Venezuela und im Abschiebezielort von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage, außerdem von prekären humanitären Gegebenheiten sowie von einer hohen Kriminalitätsrate und einer damit einhergehenden schlechten Sicherheitslage. Es kann im Einzelfall problematisch sein, das Existenzminimum zu sichern. Nach der Erkenntnislage befindet sich Venezuela weiterhin in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen, sicherheitspolitischen, gesellschaftlichen und humanitären Krise (vgl. Länderreport 17 Venezuela des Bundesamtes; im Folgenden Länderreport des Bundesamtes 9/2019). [...]

Die medizinische Versorgungslage ist ebenfalls desolat. Nachdem es unter Präsident Chavez noch ein öffentliches Gesundheitssystem gegeben hat, ist dies unter der aktuellen Führung mehr oder minder kollabiert. Die medizinische Versorgung ist selbst in Großstädten oftmals nicht gewährleistet. In vielen öffentlichen Krankenhäusern sind die hygienischen Verhältnisse prekär. Engpässe der Versorgung mit Medikamenten betreffen öffentliche und private Krankenhäuser [...]. Der öffentliche Gesundheitssektor in Venezuela ist nicht mehr in der Lage, Kranke adäquat zu versorgen oder notwendige Operationen durchzuführen. Etwas besser ausgestattet ist derzeit noch der private Sektor, wo allerdings auch schon massive Mangelerscheinungen zu beobachten sind. Viele Medikamente und Medizinprodukte sind auch dort nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt erhältlich. [....]

Die wirtschaftliche und medizinische Versorgungslage hat sich in Venezuela seit März 2020 weiterhin verschlechtert. Maßgeblich hierfür ist u. a. der Umstand, dass zusätzlich zu dem bereits seit dem Jahr 2016 ausgerufenen Ausnahmezustand im Zusammenhang mit der "Corona-Pandemie" ab dem 17. März 2020 ein landesweiter Ausnahmezustand mit Ausgangsbeschränkungen verordnet wurde, die sich auf das Wirtschaftsleben auswirken. Insbesondere informelle Arbeitstätigkeiten und die Ausübung selbstständiger Berufstätigkeiten werden dadurch erheblich erschwert. [...] Zudem sind Lebensmittel noch knapper und erneut teurer geworden. Die Regierung hat deshalb für einige Produkte eine Preisbindung angeordnet. Hinzu kommt, dass ein Teil von den ca. 5 Millionen Venezolanern, die in den vergangenen Jahren ihr Land verlassen haben, aus den Ländern Peru, Ecuador und Kolumbien infolge der "Corona-Pandemie" geltenden Ausnahmeregelungen wieder nach Venezuela zurückkommen, was die Schwierigkeiten auf dem venezolanischen Arbeitsmarkt zudem erhöhen dürfte. [...]

Auch die Sicherheitslage in Venezuela ist prekär. Gewalttätige Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten sind jederzeit möglich. Es besteht eine verbreitete, hohe Gewaltkriminalität. [...]

Dies vorangestellt, geht das Gericht vorliegend aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Venezuela aufgrund der dortigen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Die schlechten humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen begründen zwar für sich genommen ohne weiteres noch kein Abschiebungsverbot nach Venezuela, jedoch vorliegend unter Berücksichtigung der individuellen gefahrerhöhenden und glaubhaften Umstände des Klägers. [...]

Grundsätzlich ist zwar davon auszugehen, dass der Kläger als erwachsener Mann mit umfassender Arbeitserfahrung in der Lage ist, seinen eigenen Unterhalt durch Einsatz seiner Arbeitskraft zu sichern. Dies war ihm auch vor seiner Ausreise im Jahr 2018 gelungen. Allerdings hat sich seit 2018 die wirtschaftliche Situation Venezuelas nochmals erheblich verschärft. Bei einer Rückkehr ist nicht zu erwarten, dass sich der Kläger auf dem angespannten venezolanischen Arbeitsmarkt angesichts der hohen Inflationsrate und den sehr hohen Lebensmittelpreisen soweit durchsetzen wird, dass er ein ausreichendes Einkommen zur Sicherung seines Lebensunterhaltes erzielen kann. Der Kläger leidet nach seinen Angaben, die durch die Zeugenaussage der behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin und für Transfusionsmedizin ... in der mündlichen Verhandlung am 8. Juli 2022 bestätigt wurden, an bösartigem Bluthochdruck und ist auf die tägliche Einnahme der Medikamente Amlodipin 10 und Ramipril 5 angewiesen. [...]

Auch wenn sich eine generelle Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht annehmen lässt, geht das Gericht davon aus, dass sich die mit der Erkrankung einhergehende verminderte Leistungsfähigkeit derart erschwerend auf den Zugang zu einem Arbeitsverhältnis oder Gelegenheitsarbeiten, zu ausreichendem Lohn und im Hinblick auf die Erwirtschaftung und Besorgung von Lebensmitteln (auch auf dem Schwarzmarkt) auswirken wird, dass er angesichts der hohen Inflationsrate und den hohen Lebensmittelpreisen seinen Unterhalt nicht sichern kann. Insbesondere ist der Kläger als besonders hilfsbedürftiger Teil der venezolanischen Gesellschaft einzuordnen, weil er auf die o. g. Medikamente oder Bluthochdruckmedikamente mit ähnlichen Wirkstoffen angewiesen ist. Aufgrund der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass er diese Medikamente in Venezuela derzeit und in absehbarer Zukunft nicht hinreichend sicher erhalten kann. Das Gericht geht davon aus, dass die durch den Bluthochdruck verursachte eingeschränkte Belastbarkeit des Klägers seine Möglichkeiten, ein Einkommen zu erzielen, beschränkt. Zum anderen müsste er ein zusätzliches Einkommen erwirtschaften, um die von ihm benötigten Medikamente auf dem Schwarzmarkt zu beziehen. [...]