VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 03.06.2022 - 10 K 2844/20.A - asyl.net: M30849
https://www.asyl.net/rsdb/m30849
Leitsatz:

Entgegen § 60 Abs. 1 AufenthG keine Berücksichtigung der von einem Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft bei Ausreiseentscheidung:

"1. Weder das Bundesamt noch das erkennende Gericht ist in seiner Beurteilung eines Asylbegehrens an die Entscheidung der griechischen Behörden gebunden, mit der den Klägern in Griechenland internationaler Schutz gewährt wurde. Die Anerkennung eines Ausländers als Flüchtling oder als subsidiär Schutz­berechtigter in einem anderen Staat hat weder völkerrechtlich, noch unionsrechtlich oder nach nationalem Recht umfassende Bindungswirkung für die Bundesrepublik Deutschland.

2. Ist dem Bundesamt trotz der Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland die Ablehnung der Asylanträge der Kläger als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verwehrt und abweichend von den Vorgaben des § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 AufenthG eine materielle Prüfung geboten, ist § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG einschränkend auszulegen und - ebenso wie § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 AufenthG - nicht anwendbar.

3. Bei exilpolitischen Betätigungen eines iranischen Asylbewerbers ist die Gefährdungssituation grundsätz­lich nach den konkret-individuellen Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen. Ab welcher Intensität es zu Verfolgungshandlungen kommt, lässt sich dabei nicht allgemeingültig beantworten."

(Amtliche Leitsätze; teilweise anderer Ansicht: VG Göttingen, Urteil vom 18.08.2021 - 2 A 74/21 - asyl.net: M30038; siehe auch: Julius Becker: Folgen der Schutzgewährung in einem anderen europäischen Staat – Auswirkungen der
EuGH-Entscheidung »Hamed und Omar« auf Verfahren in Deutschland, Asylmagazin 9/2020, S. 299-303; Kerstin Müller: Die aufenthaltsrechtliche Situation von Schutzberechtigten nach Sekundärmigration, Asylmagazin 1-2/2022, S. 19-28)

Schlagwörter: Iran, Exilpolitik, internationaler Schutz in EU-Staat, Bindungswirkung, Abschiebungs
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG, AufenthG § 60 Abs. 2 S. 2 AufenthG, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Weder das Bundesamt noch das erkennende Gericht ist in seiner Beurteilung an die Entscheidung der griechischen Behörden, mit der den Klägern in Griechenland internationaler Schutz gewährt wurde, gebunden.

Es kann insofern dahinstehen, ob ihnen dort die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde, was den EURODAC-Treffern im Verwaltungsvorgang des Bundesamtes nicht zu entnehmen ist. Unabhängig davon hat die Anerkennung eines Ausländers als Flüchtling oder als subsidiär Schutzberechtigter in einem anderen Staat weder völkerrechtlich, noch unionsrechtlich oder nach nationalem Recht um fassende Bindungswirkung für die Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr genießen im Ausland anerkannte Flüchtlinge in Deutschland grundsätzlich nach § 60 Abs. 1 S. 2 und 3 AufenthG lediglich den gleichen Abschiebungsschutz wie die im Inland anerkannten, ohne dass ein erneutes Anerkennungsverfahren durch geführt wird. Das nationale Recht ordnet mithin nur eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung an. Es besteht aber gerade kein Anspruch auf eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Feststellung subsidiären Schutzes (vgl. § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 AufenthG). [...]

Wenn dem Flüchtling im Falle einer Überstellung in den anderen Mitgliedstaat - wie hier bei der Überstellung nach Griechenland - die ernsthafte Gefahr droht, eine gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, bedarf es nach der Rechtsprechung abweichend vom Grundsatz des § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Bundesgebiet, um sicherzustellen, dass der Ausländer die Flüchtlingseigenschaft bzw. den subsidiären Schutzstatus und die mit diesem Status verbundenen Rechte auch im Bundesgebiet in Anspruch nehmen kann (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 -, juris Rn. 42; BVerwG, Urteil vom 30.03.2021 - 1 C 41.20 -, juris Rn. 31; VG Minden, Urteil vom 02.03.2022 - 1 K 194/21.A -, juris Rn. 17 ff. und VG Düsseldorf, Urteil vom 04.08.2021 - 16 K 1148/21.A -, juris Rn. 41).

In einem solchen Ausnahmefall ist es dem Bundesamt verwehrt, den Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abzulehnen, und es ist - in Durchbrechung von § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG bzw. aufgrund teleologischer Reduzierung der Norm - verpflichtet, den Asylantrag materiell zu prüfen und über Abschiebungsverbote zu entscheiden (vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A -, juris Rn. 101; VG Stuttgart, Urteil vom 18.02.2022 - A 7 K 3174/21 -, juris Rn. 44).

Daran, dass eine Bindung an eine in einem anderen Mitgliedstaat erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes nach den obigen Ausführungen nicht besteht, ändert sich dadurch freilich nichts. [...]

Eine solche Bindung folgt auch nicht aus dem Unionsrecht. Sie kann weder dem Primär- noch dem Sekundärrecht entnommen werden. [..]

2. Die Kammer kann nicht feststellen, dass die Kläger ihr Heimatland aufgrund politischer Verfolgung verlassen haben oder dass ihnen bei Rückkehr solche droht.

a) Das Vorbringen der Kläger zum Vorfluchtgeschehen ist unglaubhaft. Die Aussagen sind durchzogen von eklatanten Widersprüchen und Ungereimtheiten. [...]

IV. Die Ausreiseaufforderung mit der Abschiebungsandrohung beruht auf §§ 34 Abs. 1 und 38 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 bis 3 AufenthG.

Der Abschiebungsandrohung steht ferner § 60 Abs. 1 S. 1 und 2 AufenthG nicht entgegen. [...]

Denn in dem hier vorliegenden Ausnahmefall, in dem trotz der Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland dem Bundesamt die Ablehnung der Asylanträge der Kläger als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verwehrt und abweichend von den Vorgaben des § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 AufenthG eine materielle Prüfung geboten ist, ist § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG einschränkend auszulegen und - ebenso wie § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 AufenthG - nicht anwendbar. Die Norm beruht - wie § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - auf der Prämisse, dass der andere Mitgliedstaat weiterhin oder erneut der für den Flüchtling verantwortliche Mitgliedstaat ist und diesem in Ausübung seiner Verantwortung Schutz gewährt. Kann von dieser Prämisse ausnahmsweise nicht ausgegangen werden, weil die Behandlung international Schutzberechtigter in dem anderen Mitgliedstaat nicht im Einklang mit der Grundrechte-Charta steht, ist ein weiteres Asylverfahren in Deutschland durchzuführen (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 04.08.2021 - 16 K 1148/21.A -, juris Rn. 102, und zu § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG BVerwG, Urteil vom 30.03.2021 - 1 C 41.20 -, juris Rn. 31). [...]