Keine strikte Bindungswirkung einer Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat für ein weiteres Asylverfahren in Deutschland:
"1. Wird die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, ein Asylantrag sei im Hinblick auf die Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen EU-Mitgliedstaat unzulässig, wegen einer dort bestehenden Gefährdung i.S.v. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC aufgehoben, so hat das Bundesamt eine Vollprüfung in einem Asylerstverfahren durchzuführen.
2. In diesem Verfahren entfaltet die Gewährung internationalen Schutzes in dem anderen Mitgliedstaat hinsichtlich einer Schutzgewährung keine Bindungswirkung, sondern wirkt sich allenfalls auf die Abschiebungsandrohung aus (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG; hier offengelassen für subsidiären Schutz).
3. Die frühere Feststellung des Bundesamts, der Schutzsuchende dürfe im Hinblick auf die Schutzgewährung in dem anderen Mitgliedstaat nicht in sein Heimatland abgeschoben werden, ist kein bloßer Hinweis an die Ausländerbehörde, sondern eine den Schutzsuchenden begünstigende Regelung. Ist diese bestandskräftig geworden, unterliegt ihr Widerruf den Anforderungen des § 49 Abs. 2 VwVfG."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
30 Die Auffassung des Klägers, die Zuerkennung subsidiären Schutzes in Italien entfalte für die Beklagte hinsichtlich einer Schutzgewährung im hier geführten Asylverfahren Bindungswirkung, teilt der Einzelrichter nicht. Im Fall einer in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erfolgten Anerkennung eines Ausländers als Flüchtling oder als subsidiär Schutzberechtigter besteht weder unionsrechtlich (durch die Qualifikations- oder die Verfahrensrichtlinie) noch nationalrechtlich eine Bindung der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die zuerkennende Entscheidung des anderen Staats (BVerwG, Urteil vom 17.06.2014 - 10 C 7/13 -, juris Rn. 29 m.w.N.; Funke-Kaiser in GK-AsylG, Stand: Mai 2021, § 29 Rn. 16; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 29 Rn. 103, 105 m.w.N.). Wird - wie hier durch das Urteil des erkennenden Gerichts vom 19.01.2021 (2 A 89/20) - die in Bezug auf eine Schutzgewährung durch den anderen Mitgliedstaat getroffene Entscheidung, der in Deutschland gestellte Asylantrag sei unzulässig, im Hinblick auf eine im anerkennenden Staat bestehende Gefährdung des Betroffenen gemäß Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC aufgehoben, so hat das Bundesamt ein erneutes Asylerstverfahren durchzuführen (Funke-Kaiser, a.a.O.; Marx, a.a.O., Rn. 103, 105). Da es sich mangels erfolglosen Abschlusses eines Asylverfahrens in dem anderen Mitgliedstaat nicht um einen Zweitantrag (§ 71a Abs. 1 AsylG) handelt, kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht an und das Bundesamt führt - wie auch vorliegend - eine vollständige, vom Verfahren des anderen Mitgliedstaats unabhängige Prüfung des Asylbegehrens durch.
31 Angesichts der fehlenden Glaubwürdigkeit des Klägers führt sein Vortrag auch nicht zur Annahme eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Er hat des Weiteren nicht aufgrund seines Gesundheitszustands Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]
34 Die Frage, ob im Hinblick auf die Gewährung subsidiären Schutzes in Italien von einer Abschiebung des Klägers nach Pakistan abzusehen ist (siehe dazu sogleich), spielt im Rahmen der Überprüfung der Entscheidung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, auf die das Bundesamt gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG beschränkt ist, keine Rolle und wirkt sich allenfalls auf die Abschiebungsandrohung aus (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 03.09.2020 - AN 17 K 18.50679 - juris Rn. 28).
35 Die Abschiebungsandrohung (Nr. 5 des angefochtenen Bescheids) ist aufzuheben. Dabei kann dahinstehen, ob von einer Abschiebung des Klägers bereits aufgrund einer entsprechenden Anwendung des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abzusehen ist. Danach darf ein Ausländer, der außerhalb des Bundesgebiets als ausländischer Flüchtling nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt ist, nicht in den Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit nach dem Ergebnis der ausländischen Prüfung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedroht ist. Durch diese Regelung hat sich die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Abschiebungsschutzes an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Staat gebunden (BVerwG, Urteil vom 17.06.2014 - 10 C 7/13 -, juris Rn. 29; Funke-Kaiser, a.a.O., § 29 Rn. 15; Marx, a.a.O., § 29 Rn. 105). Für die den subsidiären Schutz betreffende Regelung gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG gilt dies nach dem Wortlaut der Norm nicht, denn § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ordnet lediglich die entsprechende Geltung des Absatzes 1 Sätze 3 und 4, nicht jedoch des Satzes 2 an. Die Frage, ob § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Fall der Gewährung (lediglich) subsidiären Schutzes im Ausland entsprechend anwendbar ist (so Marx, a.a.O., § 29 Rn. 106; a. A. Funke-Kaiser, a.a.O., § 29 Rn. 16) muss vorliegend nicht geklärt werden, weil die Abschiebungsandrohung sich aus einem anderen Grund als rechtswidrig erweist.
36 Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung steht entgegen, dass die Abschiebung des Klägers nach Pakistan im Bescheid des Bundesamts vom 27.04.2020 (Nr. 3 Satz 4) ausdrücklich ausgenommen worden ist. Die Auffassung der Beklagten, der Ausschluss der Abschiebung nach Pakistan habe nur eine Hinweisfunktion an die Ausländerbehörde gehabt, teilt der erkennende Einzelrichter nicht. Hiergegen spricht bereits die Aufnahme des Ausschlusses in die Entscheidungsformel des Bescheids. Wie der Einzelrichter bereits in seinem Urteil vom 19.01.2021 (2 A 89/20) ausgeführt hat, handelte es sich um eine den Kläger ausschließlich begünstigende Regelung, die vom damaligen Klagebegehren nicht umfasst war und bestandskräftig geworden ist. Gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Hier hat das Bundesamt einen Widerruf des rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts (§ 49 Abs. 2 VwVfG) nicht rechtswirksam ausgesprochen. Zwar hat es dem Tenor des Bescheids vom 31.03.2021 die Worte "unter Aufhebung des Bescheides vom 27.04.2020, Punkt 3 Satz 4" vorangestellt und später den vom Kläger in das Verfahren einbezogenen Bescheid vom 29.07.2021 erlassen. Dabei hat es sich jedoch mit den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 49 Abs. 2 VwVfG nicht auseinandergesetzt. Zudem erfüllen weder die bloße Formel im Bescheid vom 31.03.2021 noch die Begründung des Bescheids vom 29.07.2021 die Anforderungen an eine in § 49 Abs. 2 VwVfG vorgesehene ordnungsgemäße Ermessensausübung. Die Beklagte hat vielmehr Ermessen gar nicht ausgeübt und insbesondere nicht berücksichtigt, dass sie die Abschiebung des Klägers nach Pakistan seinerzeit im Hinblick darauf ausgeschlossen hat, dass dieser in Italien subsidiären Schutz erhalten hat. Es ist nicht bekannt, dass sich an diesem Status des Klägers bis heute etwas geändert hat. Es hätte daher im Widerruf zum Ausdruck gebracht werden müssen, warum nun bei insoweit unveränderter Sachlage die Abschiebung des Klägers in sein Heimatland für zulässig gehalten wird. Dabei hätte die Beklagte sich auch mit den einer Abschiebung entgegenstehenden Interessen des Klägers auseinandersetzen und diese gegen die berührten öffentlichen Interessen abwägen müssen. Nichts dergleichen hat sie getan, sodass ihre Widerrufsentscheidungen wegen Ermessensausfalls rechtswidrig sind und die Bestandskraft der weiter geltenden begünstigenden Regelung einer Abschiebung des Klägers entgegensteht. [...]