Ausweisung eines jüdischen "Kontingentflüchtlings" aus der Ukraine:
"1. Jüdische Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die als (unechte) Kontingentflüchtlinge [...] aufgenommen wurden und denen nur entsprechend § 1 Abs. 3 HumHAG eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, besitzen (jedenfalls) seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 keinen Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG mehr und genießen deshalb auch keinen erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3a AufenthG.
2. Bei der Gefahrenprognose nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG bedarf es der Hinzuziehung eines Sachverständigen nur ausnahmsweise dann, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann
3. Soweit ein Ausländer zielstaatsbezogene Gefahren geltend macht, die ihrer Art nach objektiv geeignet wären, eine Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling oder die Zuerkennung (internationalen) subsidiären Schutzes zu begründen, ist es der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten im aufenthaltsrechtlichen Verfahren verwehrt, diese Umstände in die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung der widerstreitenden Interessen einzubeziehen, ohne dass eine vorherige Prüfung und Feststellung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgt ist. Der Auszuweisende hat weder ein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch einen Anspruch auf Doppelprüfung."
(Amtliche Leitsätze; sich anschließend an: BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 - 1 C 3.11 - asyl.net: M19638; zum Verhältnis aufenthaltsrechtlicher und strafgerichtlichen Gefahrenprognose siehe auch: BVerfG, Beschluss vom 06.12.2021 - 2 BvR 860/21 (Asylmagazin 7-8/2022, S. 258 f.) - asyl.net: M30352)
[...]
Der Antragsteller gehört zum Personenkreis der jüdischen Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die als (unechte) Kontingentflüchtlinge nur entsprechend § 1 HumHAG durch Aufnahmezusage gegenüber dem Bundesverwaltungsamt aus dem Ausland aufgenommen wurden (vgl. die Bescheinigung der LAB Bramsche v. 6.10.2013, Blatt 11 der Beiakte 1) und denen nur entsprechend § 1 Abs. 3 HumHAG damals eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde. Für Angehörige dieses Personenkreises hat das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 1 C 3.11 -, BVerwGE 142, 179, 188 ff. - juris Rn. 21 und 32) entschieden, dass sie (jedenfalls) seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 keinen Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG mehr besitzen. [...]
Die nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erforderliche Feststellung, dass der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, bedarf einer Prognose zur Wiederholungsgefahr. Die Prognose ist von den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten eigenständig zu treffen, ohne dass diese an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. [...]
Soweit der Antragsteller mit seinem Vorbringen zielstaatsbezogene Gefahren geltend macht, die ihrer Art nach objektiv geeignet wären, eine Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling oder die Zuerkennung (internationalen) subsidiären Schutzes zu begründen, ist es dem Antragsgegner als Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten im aufenthaltsrechtlichen Verfahren verwehrt, diese Umstände in die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung der widerstreitenden Interessen einzubeziehen, ohne dass eine vorherige Prüfung und Feststellung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgt ist. Der Auszuweisende hat weder ein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch einen Anspruch auf Doppelprüfung (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.2.2022 - BVerwG 1 C 6.21 -, juris Rn. 34).
Soweit der Antragsteller mit seinem Vorbringen zielstaatsbezogene Gefahren geltend macht, die ihrer Art nach nicht einer Prüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorbehalten sind, führen sie hier nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung. Sie sind zwar als Umstände des Einzelfalls, insbesondere als persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen im Herkunftsstaat, im Sinne des § 53 Abs. 2 AufenthG in die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung einzustellen. Sie lassen aber das besonders schwerwiegende öffentliche Ausweisungsinteresse nicht hinter die widerstreitenden Bleibeinteressen zurücktreten. Abgesehen davon, dass eine konkrete Beeinträchtigung der Bleibeinteressen des Antragstellers auf absehbare Zeit durch die vom Verwaltungsgericht suspendierte Abschiebungsandrohung (Beschl. v. 17.2.2022, Umdruck S. 1 und 14 f.) und durch die vom Antragsgegner im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine avisierte Duldung (Schriftsatz des Antragsgegners v. 7.4.2022, S. 2 = Blatt 122 der Gerichtsakte) nicht droht, verfolgte die Ausweisung selbst bei Feststellung eines Abschiebungsverbots immer noch das legitime Ziel, den Aufenthaltsstatus des Antragstellers zu verschlechtern, und wäre zur Erreichung des Ziels auch verhältnismäßig (vgl. zu dieser Möglichkeit: BVerwG, Urt. v. 25.7.2017 - BVerwG 1 C 12.16 -, juris Rn. 23; Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, juris Rn. 48; OVG Bremen, Urt. v. 17.2.2021 - 2 LC 311/20 -, juris Rn. 80). [...]