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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 - 1 C 3.11 - asyl.net: M19638
https://www.asyl.net/rsdb/M19638
Leitsatz:

1. Für die gerichtliche Beurteilung einer Abschiebungsandrohung ist jedenfalls dann, wenn der Ausländer aufgrund der Androhung noch nicht abgeschoben wurde oder noch nicht freiwillig ausgereist ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich.

2. Jedenfalls seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes können sich jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion allein aufgrund ihrer Aufnahme nicht auf das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot (Refoulement-Verbot) berufen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, Abschiebungsverbot, Abschiebungsschutz, Aufnahme, Aufnahmezusagte, jüdische Emigranten aus der früheren Sowjetunion, Kontingentflüchtling, Kontingentflüchtlingsgesetz, Refoulement-Verbot, Beurteilungszeitpunkt, maßgeblicher Zeitpunkt
Normen: AufenthG § 23 Abs. 2, AufenthG § 58 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 59 Abs. 1, AufenthG § 59 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 101 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 102, AufenthG § 103, EMRK Art. 8, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 6, GFK Art. 33 Abs. 1, HumHAG § 1 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 5, RL 2008/115/EG Art. 6, RL 2008/115/EG Art. 20 Abs. 1, VwVfG § 2 Abs. 3 Nr. 3, VwVfG § 35
Auszüge:

[...]

Die Revisionen der Beklagten und der Landesanwaltschaft Bayern sind zulässig und begründet. Die Berufungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat die Abschiebungsandrohung, für deren gerichtliche Überprüfung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblich ist (1.), mit einer Begründung aufgehoben, die mit Bundesrecht unvereinbar ist. Denn jedenfalls seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes genießt der Kläger keine Rechtsstellung, die das Refoulement-Verbot (§ 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG und Art. 33 Abs. 1 GFK) umfasst (2.). Des Weiteren hat das Berufungsgericht seiner Gefahrenprognose im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unzutreffende Beurteilungsmaßstäbe zugrunde gelegt (3.). Da der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen über das Vorliegen dieses Abschiebungsverbots nicht selbst abschließend entscheiden kann, ist die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Der gerichtlichen Beurteilung einer Abschiebungsandrohung ist jedenfalls dann, wenn der Ausländer aufgrund der Androhung noch nicht abgeschoben wurde oder noch nicht freiwillig ausgereist ist, grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts zugrunde zu legen. Das liegt in der Konsequenz der neueren Rechtsprechung des Senats zum veränderten Zeitpunkt der maßgeblichen Sach- und Rechtslage für die gerichtliche Prüfung einer Ausweisung (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 12), der Ermessensentscheidung über die Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329, Rn. 37 f.) sowie der Rücknahme oder des Widerrufs eines unbefristeten Aufenthaltstitels (Urteil vom 13. April 2010 - BVerwG 1 C 10.09 - Buchholz 402.242 § 51 AufenthG Nr. 1). Maßgeblich für die Änderung der Rechtsprechung war die Erwägung, dass die genannten Verwaltungsakte zu einer Aufenthaltsbeendigung führen können, bei der in vielen Fällen dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie bei familiären Bindungen dem Grundrecht aus Art. 6 GG besondere Bedeutung zukommt. Der diesen Freiheitsrechten immanente Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spricht dafür, dass die Gerichte bei ihrer Entscheidung über einen aufenthaltsbeendenden Verwaltungsakt auf eine möglichst aktuelle, d.h. nicht bereits überholte Tatsachengrundlage abstellen (Urteil vom 15. November 2007 a.a.O. Rn. 16 a.E.). Sie sollen realitätsnah und aus Gründen der Verfahrensökonomie möglichst abschließend entscheiden können (Urteil vom 13. Dezember 2011 - BVerwG 1 C 14.10 - juris Rn. 10 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE bestimmt). Es liegt auf der Hand, dass diese Überlegungen erst recht für die Abschiebungsandrohung als vollstreckungsrechtliche Grundlage einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung zutreffen. Ob auch bei einer bereits durchgeführten Abschiebung oder einer freiwilligen Ausreise auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung der Tatsacheninstanz oder aber den Zeitpunkt der Abschiebung bzw. Ausreise abzustellen ist, kann hier dahinstehen.

Auch wenn - wie hier - für die revisionsgerichtliche Prüfung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, sind Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens zu beachten, wenn sie das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - zu berücksichtigen hätte (stRspr, etwa Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb im vorliegenden Fall die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2854). Damit sind auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) zu beachten.

Nicht anzuwenden ist hingegen die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Rückführungsrichtlinie - RFRL - (ABl EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98). Denn für die bereits 2006 verfügte und mit der Klage angegriffene Abschiebungsandrohung beansprucht die Rückführungsrichtlinie, die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie bis zum 24. Dezember 2010 umzusetzen war, noch keine Geltung (zur intertemporalen Anwendung von Richtlinien vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - Rs. C-349/06, Polat - Slg. 2007, I-8167 Rn. 25 ff.). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 15 Abs. 5 und 6 RFRL, der auf bereits vor der Umsetzung begonnene und darüber hinaus andauernde Inhaftierungen Anwendung findet (vgl. EuGH, Urteil vom 30. November 2009 - Rs. C-357/09 PPU, Kadzoev - Slg. 2009, I-11189 Rn. 38). Denn Regelungen zur Dauer der Abschiebungshaft betreffen zukünftige Auswirkungen eines noch andauernden Sachverhalts und nicht die gerichtliche Kontrolle einer Behördenentscheidung, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist getroffen worden ist.

An diesen Maßstäben gemessen liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer Androhung der Abschiebung unmittelbar aus der Haft (§ 59 Abs. 1 und 5 i.V.m. § 58 Abs. 1 AufenthG) vor. Insbesondere ist, da sich der Kläger in Haft befindet, die Überwachung seiner Ausreise erforderlich (§ 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG), so dass es keiner Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise bedarf (§ 59 Abs. 5 AufenthG).

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (BGBl I S. 1057) - Kontingentflüchtlingsgesetz (HumHAG) der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Der Kläger ist kein Kontingentflüchtling (2.1). Dahinstehen kann, ob die ihm durch die Aufnahmezusage vermittelte Rechtsstellung ursprünglich auch das in Art. 33 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 559) - GFK - niedergelegte Refoulement-Verbot umfasst hat (2.2). Denn entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts besteht diese Rechtstellung nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht mehr fort. Deshalb können sich jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion jedenfalls seit diesem Zeitpunkt allein aufgrund ihrer Aufnahme nicht auf das Refoulement-Verbot berufen (2.3).

2.1 Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger, der weder als Asylberechtigter noch als Flüchtling anerkannt ist, sich nicht unmittelbar auf das Refoulement-Verbot (Art. 33 Abs. 1 GFK) berufen kann. Gemäß § 1 Abs. 1 HumHAG genießt im Bundesgebiet die Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 GFK, wer als Ausländer im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks oder aufgrund einer Übernahmeerklärung nach § 33 Abs. 1 AuslG 1990 im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufgenommen worden ist. Zwar stünde der Fortgeltung des Kontingentflüchtlingsstatus nicht entgegen, dass das Kontingentflüchtlingsgesetz durch Art. 15 Abs. 3 Nr. 3 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) mit Wirkung zum 1. Januar 2005 aufgehoben worden ist. Denn aus der Übergangsvorschrift des § 103 AufenthG, nach der für Kontingentflüchtlinge die Erlöschens- und die Widerrufsregelung des Kontingentflüchtlingsgesetzes (§ 2a und 2b HumHAG) weiter Anwendung finden, ergibt sich, dass ein unmittelbar aufgrund dieses Gesetzes entstandener Kontingentflüchtlingsstatus fortbesteht. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Statuserwerb nach § 1 Abs. 1 HumHAG beim Kläger zu Recht verneint.

Nach den vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen befand sich der Kläger als jüdischer Emigrant aus der früheren Sowjetunion im Zeitpunkt seiner Aufnahme weder in einer Verfolgungssituation noch war seine Lage durch ein Flüchtlingsschicksal gekennzeichnet. Entscheidend ist jedoch, dass die Übernahme seitens der Bundesrepublik Deutschland nicht wegen eines derartigen Gruppenschicksals erfolgte (vgl. zu den Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 HumHAG: Urteile vom 17. Februar 1992 - BVerwG 9 C 77.89 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 150 S. 329 331, 332, 334> und vom 27. Februar 1996 a.a.O. Nr. 185 S. 75 78>). Das Berufungsgericht hat den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz (Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder) vom 9. Januar 1991 und die darauf aufbauende Aufnahmepraxis jüdischer Emigranten aus der früheren Sowjetunion vielmehr dahingehend gewürdigt, dass dieser Personenkreis im Bewusstsein der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Nationalsozialismus zur Erhaltung der Lebensfähigkeit jüdischer Gemeinden in Deutschland und zur Revitalisierung des jüdischen Elements im deutschen Kultur- und Geistesleben aufgenommen wurde. Das ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. [...]

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Annahme des Berufungsgerichts, die von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossene entsprechende Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes belege, dass jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion von der Bundesrepublik Deutschland nicht als verfolgte oder durch ein Flüchtlingsschicksal gekennzeichnete Gruppe aufgenommen worden sind, als überzeugend (ebenso VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2011 - 11 S 1413/10 - InfAuslR 2011, 383 384, 385 f.>; VGH München, Beschluss vom 20. Dezember 2004 - 12 CE 04.3232 - juris <Rn. 18 f.>; OVG Greifswald, Urteil vom 15. September 2004 - 1 L 107/02 - LKV 2005, 510 512>; OVG Berlin, Beschluss vom 30. Juli 2004 - 2 N 87.04 - juris). Mangels gesetzlichen Erwerbs des Kontingentflüchtlingsstatus kann sich der Kläger nicht unmittelbar auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG und Art. 33 Abs. 1 GFK berufen.

2.2 Da der Kläger den Kontingentflüchtlingsstatus nicht durch Gesetz erworben hat, konnte eine das Refoulement-Verbot umfassende Rechtsstellung entgegen der Annahme, wie sie der angefochtenen Entscheidung unausgesprochen zugrunde liegt, nur durch einen Rechtsakt (Verwaltungsakt) begründet werden. Denn nichtförmliches Verwaltungshandeln, auch wenn es einer auf Schreiben oberster Bundes- und Landesbehörden zurückzuführenden Verwaltungspraxis entspricht, wonach die Betroffenen hinsichtlich bestimmter begünstigender Rechtsfolgen wie Inhaber des Kontingentflüchtlingsstatus behandelt werden sollen, vermag einem Betroffenen weder diesen Status noch die Möglichkeit der Berufung auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. Art. 33 GFK zu vermitteln.

Als rechtsbegründender Verwaltungsakt kommt im vorliegenden Fall nur die Aufnahmezusage des Beauftragten des Freistaats Bayern vom 18. Juni 1996 in Betracht. Sie wurde - wie vom Klägerbevollmächtigten im Revisionsverfahren belegt und auch von den übrigen Beteiligten nicht in Zweifel gezogen - der Familie des Klägers vor ihrer Ausreise durch das Generalkonsulat St. Petersburg bekannt gegeben. Diese Vorgehensweise entsprach wohl auch der damaligen Verwaltungspraxis (vgl. IV. Nr. 3 des Erlasses des Auswärtigen Amtes betreffend die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen UdSSR vom 25. März 1997, Gz.: 514-516.20/7, nach der die Aufnahmezusage den Antragstellern unverzüglich zuzustellen war).

Die dem Kläger bekannt gegebene Aufnahmezusage ist ein Verwaltungsakt, der zumindest die Zusicherung der Erteilung eines Visums sowie eines unbefristeten Aufenthaltstitels nach Einreise mit einem nationalen Visum enthielt (weitergehend i.S. eines Status sui generis: VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2011 a.a.O. S. 386 ff.; Hochreuter, NVwZ 2000, 1376, 1379 f.). Der Gegenauffassung, wie sie in IV. Nr. 7 des o.g. Erlasses des Auswärtigen Amtes vom 25. März 1997 zum Ausdruck kommt, wonach selbst eine zugestellte Aufnahmezusage als reines Verwaltungsinternum anzusehen sei, folgt der Senat nicht. Denn ob ein behördliches Schreiben eine verbindliche Regelung durch Verwaltungsakt enthält und welchen Inhalt dieser ggf. hat, ist durch Auslegung nach der im Öffentlichen Recht entsprechend anwendbaren Regel des § 133 BGB zu ermitteln. Dieser allgemeine Grundsatz findet hier Anwendung, ungeachtet des Umstands, dass das Verwaltungsverfahrensgesetz selbst gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG nicht für die Tätigkeit der Vertretungen des Bundes im Ausland gilt. Maßgebend ist bei der Auslegung behördlicher Schreiben nicht der innere Wille der Behörde, sondern der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger bei objektivierter Würdigung verstehen konnte, wobei Unklarheiten zu Lasten der Verwaltung gehen (stRspr, vgl. Urteile vom 12. Januar 1973 - BVerwG 7 C 3.71 - BVerwGE 41, 305 306>; vom 18. Juni 1980 - BVerwG 6 C 55.79 - BVerwGE 60, 223 228 f.>; vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 279> und vom 20. April 2005 - BVerwG 9 C 4.04 - BVerwGE 123, 292 297>;).

Bei Anwendung dieser Maßstäbe konnte und durfte der Kläger nach Erhalt des im Pendelbriefverfahren zwischen Generalkonsulat - Bundesverwaltungsamt - Beauftragter des Freistaats Bayern und zurück übermittelten Formulars mit der Überschrift "Aufnahme jüdischer Emigranten aus der Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland" und der darin angekreuzten Variante "Die Aufnahmezusage wird erteilt." davon ausgehen, dass damit dem Grunde nach verbindlich über seinen künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet entschieden worden war. Die Notwendigkeit, sich noch um ein Visum zu bemühen, steht dem nicht entgegen. Die gegenteilige Annahme wäre vor dem Hintergrund, dass der Kläger zuvor beim Generalkonsulat ein Formular "Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - Zuwanderungsfall aus der SU" ausgefüllt hatte, lebensfremd. Dem Revisionsgericht ist die eigene Auslegung der Aufnahmezusage nicht verwehrt, da das Tatsachengericht in seiner Entscheidung aufgrund seines abweichenden rechtlichen Ansatzes dazu nichts ausgeführt hat (vgl. Urteil vom 21. Juni 2006 - BVerwG 6 C 19.06 - BVerwGE 126, 149 Rn. 52 m.w.N.). [...]

2.3 Selbst wenn die Aufnahmezusage seinerzeit das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot mit umfasst haben sollte, könnte sich der Kläger hierauf nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht mehr berufen. Denn aus den Übergangsregelungen des Aufenthaltsgesetzes ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 23 Abs. 2 AufenthG die zukünftige Rechtsstellung auch der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion abschließend neu ausgestaltet hat.

Nach § 23 Abs. 2 AufenthG kann das Bundesministerium des Innern zur Wahrung besonders gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Benehmen mit den obersten Landesbehörden anordnen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage erteilt. Den betroffenen Ausländern ist entsprechend der Aufnahmezusage eine zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigende Aufenthaltserlaubnis oder eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, die mit einer wohnsitzbeschränkenden Auflage versehen werden kann; flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG genießen sie nicht.

Der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ist zu entnehmen, dass man für das Kontingentflüchtlingsgesetz keinen Anwendungsbedarf mehr sah. Dort findet sich der Hinweis, dass derzeit (Frühjahr 2003) lediglich die Aufnahme jüdischer Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes erfolge. Nunmehr werde für diesen Personenkreis bei besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland mit § 23 Abs. 2 AufenthG die Möglichkeit geschaffen, von Anfang an eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen (BTDrucks 15/420 S. 64). In der speziellen Begründung zu § 23 Abs. 2 AufenthG wird ausgeführt (BTDrucks 15/420 S. 78):

"… Die Aufnahme jüdischer Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1991 (insgesamt bisher über 170 000 Personen) erfolgt bislang lediglich in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes (Ergebnis der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder vom 9. Januar 1991). Die neue Vorschrift schafft für derartige Fälle nunmehr eine sichere Rechtsgrundlage. Das Ergebnis der Besprechung vom 9. Januar 1991 dokumentiert den übereinstimmenden Willen zur Aufnahme dieses Personenkreises, es bedarf deshalb auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes keiner erneuten Anordnung. Die in § 1 Abs. 1 Kontingentflüchtlingsgesetz vorgesehene Gewährung der Rechtsstellung nach den Artikeln 2 bis 34 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) ist im Hinblick auf die Gewährung einer Niederlassungserlaubnis nicht erforderlich. Darüber hinaus ist eine Reihe der sich aus der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Rechtsfolgen (z. B. Erlöschen der Rechtsstellung, wenn die Person sich freiwillig oder durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses erneut in den Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt, § 2a Abs. 1 Nr. 1 Kontingentflüchtlingsgesetz) der Stellung aufgenommener jüdischer Immigranten nicht angemessen."

Diese - vom Berufungsgericht in Rn. 71 seiner Entscheidung fehlerhaft wiedergegebene - Begründung macht deutlich, dass mit Blick auf die bisher praktizierte entsprechende Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes ein Bedürfnis für die Schaffung einer "sicheren Rechtsgrundlage" gesehen wurde. Des Weiteren sollte die Rechtsstellung jüdischer Emigranten von den sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Rechtsfolgen, die als nicht erforderlich und zum Teil als nicht angemessen erschienen, abgekoppelt und in Zukunft rein aufenthaltsrechtlich ausgestaltet werden. Dass die Neuregelung auch die vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten erfassen und damit zukünftig eine einheitliche, nicht länger mit rechtlichen Unsicherheiten behaftete Rechtsstellung schaffen wollte, ergibt sich auch aus den Übergangsregelungen des Aufenthaltsgesetzes. Darin hat der Gesetzgeber zwischen Personen, die den Kontingentflüchtlingsstatus gesetzlich erworben haben, und solchen, auf die das Kontingentflüchtlingsgesetz nur entsprechend angewendet worden ist, differenziert und die statusrechtlichen Folgen unterschiedlich ausgestaltet.

Gemäß § 103 AufenthG finden für Personen, die vor dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes gemäß § 1 HumHAG die Rechtsstellung nach den Artikeln 2 bis 34 GFK genießen, die Erlöschens- und die Widerrufsregelung des Kontingentflüchtlingsgesetzes (§ 2a und 2b HumHAG) weiter Anwendung. § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ordnet an, dass eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach § 1 Abs. 3 HumHAG oder in entsprechender Anwendung des vorgenannten Gesetzes erteilt worden ist, und eine anschließend erteilte Aufenthaltsberechtigung als Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG fortgelten. Damit werden Kontingentflüchtlinge und Personen, auf die das Kontingentflüchtlingsgesetz von der Verwaltung nur entsprechend angewendet worden ist, aufenthaltsrechtlich gleich behandelt; ihr bestehendes Daueraufenthaltsrecht wird fortgeschrieben. Aus der Zusammenschau der Regelungen wird jedoch deutlich, dass nur ein gesetzlich erworbener Kontingentflüchtlingsstatus über den 1. Januar 2005 hinaus fortbesteht. Dieser systematische Befund wird durch die Gesetzesmaterialien zu den Übergangsvorschriften bestätigt. Denn nur in der Begründung zu § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird die Gruppe der jüdischen Emigranten genannt; an dieser Stelle wird die Neuregelung des § 23 Abs. 2 AufenthG ausdrücklich auch auf Aufnahmefälle aus der Vergangenheit erstreckt: "Für jüdische Immigranten, die in entsprechender Anwendung des HumHAG aufgenommen wurden, gilt § 23 Abs. 2, …" (BTDrucks. 15/420 S. 100). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 102 Abs. 1 AufenthG, da die Vermittlung des Kontingentflüchtlingsstatus keine Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift ist.

Der Senat entnimmt diesen Regelungen den hinreichend deutlichen Willen des Gesetzgebers, mit der abschließenden aufenthaltsrechtlichen Neuregelung in § 23 Abs. 2 AufenthG auch die Fälle der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten zu erfassen, um die bisherige, aus der entsprechenden Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes resultierende unklare Rechtslage für die Zukunft zu bereinigen (a.A. VGH Mannheim, Urteil vom 13. Juli 2011 a.a.O. 389>). Die darin liegende unechte Rückwirkung der Neuregelung ist mit Blick auf die bisherigen rechtlichen Unsicherheiten verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn die Betroffenen behalten ihr Daueraufenthaltsrecht und haben die Möglichkeit, bei Furcht vor Verfolgung einen Asylantrag zu stellen. Schließlich ist bei dem Personenkreis der jüdischen Emigranten, die - wie dargestellt - nicht wegen eines Verfolgungsschicksals aufgenommen worden sind, auch kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand eines ihnen möglicherweise in der Vergangenheit gewährten flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutzes ersichtlich. Demzufolge vermag sich der Kläger jedenfalls seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht auf das Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG und Art. 33 GFK zu berufen. Unter diesen Umständen bedarf es keiner Entscheidung, ob das Berufungsgericht ohne Verstoß gegen Bundesrecht davon ausgegangen

ist, dass im Fall des Klägers die Voraussetzungen für einen Ausschluss nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht (mehr) vorliegen.

3. Die angefochtene Entscheidung verletzt zudem § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Das Berufungsgericht hat der Gefahrenprognose, die es bei Prüfung dieses Abschiebungsverbots gestellt hat, einen unzutreffenden Ansatz und darauf aufbauend fehlerhafte materiellrechtliche Beurteilungsmaßstäbe zugrunde gelegt.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer landesweit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr kann sich im Einzelfall auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine notwendige und an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung tatsächlich z.B. aus finanziellen Gründen nicht erlangen kann (Urteil vom 29. Oktober 2002 - BVerwG 1 C 1.02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 66 zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990). Der Senat hat bereits entschieden, dass die Verschlimmerung einer Erkrankung, die der Betroffene nicht mit einer Vielzahl seiner Landsleute teilt, so dass kein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG besteht und die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht greift, als individuelle, unmittelbar am Maßstab der genannten Vorschrift zu prüfende Gefahr anzusehen ist (Urteil vom 17. Oktober 2006 - BVerwG 1 C 18.05 - BVerwGE 127, 33 Rn. 15 f. = Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff., AufenthG Nr. 21). In Fällen einer Erkrankung eher singulären Charakters - wie hier - sind die Voraussetzungen des genannten Abschiebungsverbots erfüllt, wenn sich die Krankheit des Betroffenen mangels (ausreichender) Behandlung im Abschiebungszielstaat verschlimmert und sich dadurch der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (Beschluss vom 24. Mai 2006 - BVerwG 1 B 118.05 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 16 m.w.N.). Konkret ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung alsbald nach der Abschiebung des Betroffenen einträte (Urteil vom 25. November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383 387> = Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 10). Diesen Prüfungsansatz und die sich daraus ergebenden Maßstäbe hat das Berufungsgericht in mehrfacher Hinsicht verfehlt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Beweisaufnahme, wie die Beweisbeschlüsse vom 26. November 2009 zeigen, nur auf die Diagnose der Krankheiten des Klägers sowie deren Behandelbarkeit in der Russischen Föderation (einschließlich verfügbarer Medikation) fokussiert. Dem auf diesen tatsächlichen Feststellungen aufbauenden, für das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zentralen Beweisthema, nämlich dem Krankheitsverlauf bei Rückkehr bzw. Abschiebung in das Herkunftsland ohne medizinische Betreuung bzw. bei vom Kläger nur teilweise finanzierbarer Behandlung und Medikation, ist er nicht nachgegangen. Des Weiteren hat das Berufungsgericht, wie aus seinem Beweisbeschluss vom 11. Mai 2010 ersichtlich wird, die Beurteilung, ob die in den medizinischen Fachgutachten genannten Behandlungen und Medikamente erforderlich sind, den medizinischen Gutachtern überlassen. Diese haben ihrer Wertung jedoch den in Deutschland üblichen medizinischen Standard zugrunde gelegt und sich - mangels entsprechender Vorgaben des Berufungsgerichts - nicht am Maßstab einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung orientiert. Schließlich hat das Berufungsgericht in seiner finanziellen Bedarfsberechnung für den Kläger monatliche Wohnkosten "für eine bescheidene 1-Zimmer- Wohnung am Stadtrand von Sankt Petersburg" in Höhe von 400 € angesetzt (BA Rn. 82). Dieses Unterbringungsniveau, das der Verwaltungsgerichtshof selbst dem Auswärtigen Amt in seiner Anfrage vom 24. August 2010 vorgegeben hatte, verfehlt den strengen Maßstab des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Diese Verstöße gegen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen vermag der Senat über das Vorliegen des genannten Abschiebungsverbots selbst weder positiv noch negativ abschließend zu entscheiden. Damit war die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), ohne dass es eines Eingehens auf die von den Revisionsführern erhobenen Aufklärungsrügen bedarf. [...]