OVG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.07.2022 - 3 S 6/22 - asyl.net: M30826
https://www.asyl.net/rsdb/m30826
Leitsatz:

Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis für in Deutschland geborenes Kind gemäß § 33 S. 1 AufenthG ermessensfehlerhaft:

1. Bei Ausübung des gemäß § 33 S. 1 AufenthG eingeräumten Ermessens soll der besonderen Beziehung zwischen Eltern und Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden.

2. Hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob ihm ein Sorgerecht zusteht und ob er in familiärer Lebensgemeinschaft mit dem Kind lebt. Die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis allein mit der Begründung, dass die familiäre Lebensgemeinschaft auch im Herkunftsland gelebt werden könne und die Mutter unerlaubt eingereist sei und sich hier ohne Aufenthaltserlaubnis aufhalte, ist ermessensfehlerhaft.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 04.02.2021 - 8 ME 2/21 - asyl.net: M29360)

Schlagwörter: in Deutschland geborenes Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Ermessen, Familieneinheit, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Kindeswohl, Vaterschaftsanerkennung, Vaterschaft,
Normen: AufenthG § 33 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

6 Nach § 33 Satz 1 AufenthG kann einem Kind, das - wie der Antragsteller zu 2 - im Bundesgebiet geboren wird, abweichend von § 5 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt. Herr ..., der nach seiner vom Antragsgegner nicht durchgreifend in Frage gestellten Vaterschaftsanerkennung der Vater des Antragstellers zu 2 ist, hatte zum maßgeblichen Zeitpunkt der Geburt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Februar 2017 - OVG 3 B 14.16 - juris Rn. 16; Beschluss vom 27. Januar 2014 - OVG 12 S 72.13, 12 M 43.13 - juris Rn. 7 m.w.N.) - und auch noch zum jetzigen Zeitpunkt - einen Aufenthaltstitel nach § 38a AufenthG. [...] Soweit man als weitere -  ungeschriebene - Tatbestandsvoraussetzung das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Elternteil und dem Kind ansieht (so OVG Münster, Urteil vom 7. April 2016 - 17 A 2389/15 - juris Rn. 25 ff.; vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 30. März 2021 - 11 S 3421/20 - juris Rn. 19), sprechen für das Bestehen einer engeren familiären Bindung neben der schon vor der Geburt abgegebenen Sorgerechtserklärung zum jetzigen Zeitpunkt der Umstand, dass die Antragsteller seit März 2022 unter der Adresse des Herrn ... wohnen, und die mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Fotos, die gerade auch den Antragsteller zu 2 mit Herrn ... zusammen in durchaus natürlich wirkenden familiären Situationen zeigen.

7 Die Beschwerde macht mit Erfolg geltend, dass der Antragsgegner das ihm nach § 33 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen - anders als das Verwaltungsgericht meint - nicht fehlerfrei ausgeübt hat. Grundsätzlich verfolgt § 33 AufenthG das Ziel, ein im Bundesgebiet geborenes Kind am rechtmäßigen Aufenthalt eines Elternteils teilhaben zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 2 BvR 524/01 - juris Rn. 34 zu § 21 AuslG). Die Ermessensregelung in Satz 1 soll den Ausländerbehörden bessere Steuerungsmöglichkeiten geben; bei der Ausübung des Ermessens soll der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden, wobei hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes insbesondere zu berücksichtigen ist, ob ihm ein Sorgerecht zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem Kind lebt (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176; OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 8 ME 2/21 - juris Rn. 15).

8 Diesen Gesichtspunkten ist nicht schon durch den Hinweis des Antragsgegners, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 GG keinen unmittelbaren Aufenthaltsanspruch gewährt, und es den Antragstellern und Herrn ... zumutbar sei, die familiäre Lebensgemeinschaft in Nigeria zu leben, hinreichend Rechnung getragen. Es hat vielmehr eine umfassende Ermessensabwägung stattzufinden, bei der die Situation des Kindes in den Blick genommen wird (OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 - 8 ME 2/21 - juris Rn. 16). [...]

9 Auch wenn die Ausländerbehörde grundsätzlich berücksichtigen darf, ob die Familieneinheit auch im Ausland hergestellt werden kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. September 2021 - OVG 3 S 53/21 -), wird aus der Begründung des Bescheids deutlich, dass der Antragsgegner maßgeblich auf das fehlende Aufenthaltsrecht und die illegale Einreise der Antragstellerin zu 1 abstellt, deren aufenthaltsrechtliches Schicksal der Antragsteller zu 2 teile (Seite 6 des Bescheids vom 7. Dezember 2021), und die Beziehung zum Kindsvater nur nachrangig und nicht umfassend in den Blick genommen wird. [...]