VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02.05.2022 - 14a K 7600/17.A - asyl.net: M30808
https://www.asyl.net/rsdb/m30808
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Mitglied der YPG aus der Türkei:

1. Die Unabhängigkeit der Justiz ist in der Türkei erheblich eingeschränkt und hat sich in der letzten Zeit weiter verschlechtert.

2. Der YPG wie auch der PYD wird eine Nähe zur PKK nachgesagt. Mit einer YPG-Mitgliedschaft geht aus türkischer Sicht grundsätzlich ein Terrorismusverdacht einher. Es besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung für Personen, die deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten.

3. Bei der Einreise in die Türkei hat sich jede Person einer Personenkontrolle zu unterziehen. Die Sicherheitskräfte interessieren sich besonders für Kurden, deren Asylgesuche abgelehnt wurden und die abgeschoben werden. Ergeben sich Anhaltspunkte, dass die einreisende Person der PKK bzw. einer Vorfeldorganisation nahesteht, muss die Person mit einer intensiven Befragung, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen.

4. Aus dem Fehlen von Ermittlungsverfahren im Informationssystem UYAP oder e-Devlet kann nicht geschlossen werden, dass kein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates besteht, denn in der Türkei gibt es neben diesen Informationssystemen noch das geschützte Intranet der Polizei PolNet, außerdem kann die Staatsanwaltschaft den Zugriff auf Daten gewisser Personen verhindern bzw. Ermittlungen gegen sie geheim halten. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es sich um Informationssysteme des Verfolgerstaates handelt, auf die dieser jederzeit Einfluss nehmen kann.

5. Die YPG ist in Deutschland nicht nach dem Vereinsgesetz verboten und unterliegt keinen vereinsrechtlichen Beschränkungen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, HDP, YPG, PYD, Rückkehrgefährdung, Haft, Ermittlungsverfahren, Kampfhandlungen, Syrien,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). [...]

Zur derzeitigen Lage in der Türkei geht das Gericht, [...] insoweit der Rechtsprechung der zuständigen Senate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen folgend, davon aus, dass es in der Türkei trotz der Reformbemühungen, insbesondere der sog. Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter, weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen erheblicher Art und Intensität kommt, die dem türkischen Staat zurechenbar sind. [...]

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jedermann, gleich welcher Volkszugehörigkeit, einer Personenkontrolle zu unterziehen. Das gilt für abgeschobene oder freiwillig dorthin zurückkehrende Asylbewerber gleichermaßen. Ist eine Person in das Fahndungsregister eingetragen oder ist gegen sie ein Ermittlungsverfahren anhängig, wird sie in Polizeigewahrsam genommen; ist ein Strafverfahren anhängig, wird der Betroffene festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 14. Juni 2019). Außerdem interessieren sich die Staatssicherheitskräfte besonders für Kurden, deren Asylgesuche abgelehnt und die abgeschoben werden. [...]

Es ist davon auszugehen, dass die Grenzbehörde auch Zugriff auf die bei der Polizeidienststelle des Heimatortes gespeicherten Daten hat. Nur dann, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Einreisende als Mitglied oder Unterstützer der PKK bzw. einer Nachfolgeorganisation nahe steht oder schon vor der Ausreise ein Separatismusverdacht gegen ihn bestanden hat, muss der Betroffene mit einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden, unter Umständen auch mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. [...]

Die Unabhängigkeit der Justiz ist erheblich eingeschränkt. Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte. Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert. [...]

Danach besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung (weiterhin) insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten (sind), weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der oder anderer von der türkischen Regierung als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden, wozu auch die YPG zählt, deren tatsächlichen oder mutmaßlichen Mitglieder oder Unterstützer besonders gefährdet sind. [...]

Es kann auch davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Gülen-Anhänger, die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, im Ausland ausspähen und in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen müssen. [...]

Denn der YPG, wie auch der PYD, "Partei der demokratischen Union" (Pariya Yekitiya Demokrat), wird eine Nähe zur terroristischen PKK nachgesagt, [...] und mit einer YPG Mitgliedschaft geht aus türkischer Sicht grundsätzlich die Annahme eines Terrorismusverdachtes mit Gefährdung der Sicherheit einher.

Die YPG, die als bewaffneter Arm der in Nordsyrien aktiven kurdischen PYD gilt und sich ideologisch auf den inhaftierten PKK-Gründer Öcalan bezieht, deren genaue Zuordnung zu einer Organisationsmitgliedschaft aber mangels belastbarer Erkenntnisse nicht möglich ist, ist in den USA und Europa - anders als in der Türkei - aber nicht als Terrororganisation anzusehen und als solche eingestuft. [...] Ihre Kämpfer bildeten das Rückgrat der "Syrischen Demokratischen Kräfte", die mit Hilfe der USA ausgebildet und bewaffnet wurden. Auf syrischem Boden waren sie die wichtigsten Partner der USA im Kampf gegen den IS und der militärische Sieg über das Terrorkalifat des islamischen Staates ist zu einem großen Teil der YPG zu verdanken. [...]

Die YPG ist auch nicht nach dem Vereinsgesetz in Deutschland verboten und unterliegt insoweit keinen vereinsrechtlichen Beschränkungen, da "keine Identität zwischen YPG und PKK" besteht. [...]

Hinzu kommt im Fall des Klägers, dass seine Verletzung bzw. körperliche Beeinträchtigung durch ... unzweifelhaft erkennbar ist, wovon sich auch das Gericht in der mündlichen Verhandlung überzeugen konnte. Dies wird bei Einreise des Klägers in die Türkei, ggf. im Rahmen einer Abschiebung, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Ablehnung seines Asylgesuchs zumindest Anlass zu einer intensiveren Befragung durch die Sicherheitsbehörden führen, denen der vulnerable Kläger dann ausgeliefert ist. Dass er dabei die Ursache seiner Verletzung benennt und diese zu weiteren Nachfragen bzw. Nachforschungen der Sicherheitsbehörden führt, erscheint mehr als wahrscheinlich. Ebenso, dass die Sicherheitskräfte auf Grund der YPG-Mitgliedschaft und der belegten Kampfverletzung einen Eintritt für die kurdische Sache sowie eine PKK-Verbindung mit einhergehender Anknüpfung an seine regimekritische Haltung unterstellen. Von daher stellt die Rückkehr des Klägers in die Türkei aktuell für ihn ein unkalkulierbares Risiko dar. Er muss damit rechnen, nach der intensiven Befragung nach der Einreise festgenommen sowie auf unbestimmte Zeit ohne ein rechtsstaatliches Verfahren inhaftiert zu werden, wobei auch mit menschenrechtswidriger Behandlung oder Folter zu rechnen ist.

Dieser Bewertung steht nicht entgegen, dass der Kläger bisher kein Ermittlungsverfahren in der Türkei gegen ihn nachgewiesen hat oder möglicherweise (noch) kein Ermittlungsverfahren gegen ihn angestrengt wurde, was ggf. im Informationssystem UYAP oder e-Devlet hinterlegt ist und hätte zur Kenntnis gebracht werden können. Denn schon im Hinblick darauf, dass es in der Türkei noch das geschützte Intranet der Polizei – PolNet - existiert, auf das nur autorisierte Personen der Polizei Zugriff haben und in dem deutlich mehr Informationen abgelegt sind als in anderen Datenbanken, [...] kann aus einem Fehlen von Eintragungen in e-Devlet oder UYAP nicht quasi automatisch darauf geschlossen werden - wovon die Beklagte offensichtlich ausgeht -, es bestehe keinerlei Interesse des türkischen Staates an der entsprechenden Person. Denn abgesehen davon, dass die Staatsanwaltschaft auf Antrag einen Zugriff auf "geschützte" Dokumente verhindern kann und Ermittlungen gegen eine Person geheim gehalten werden können, [...] kann im Zusammenhang mit diesen Datenbanken nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich um Informationssysteme des "Verfolgerstaates" handelt, auf die dieser als Systemadministrator manipulativ jederzeit Zugriff nehmen kann. Schon von daher ist eine differenzierte Betrachtung und Bewertung etwaiger Erkenntnisse bzw. das Fehlen irgendwelcher Eintragungen in diesen Systemen notwendig. Die Bewertung eines Verfolgungsschicksal bis hin zur Anerkennung vom Nachweis einer Eintragung in die Systeme abhängig zu machen, wie von der Beklagten gefordert, greift zweifelsohne zu kurz. [...]