VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 20.10.2021 - 4 K 4266/20 - asyl.net: M30806
https://www.asyl.net/rsdb/m30806
Leitsatz:

Anspruch auf Reiseausweis für Ausländer, da die Beschaffung eines eritreischen Nationalpasses für subsidiär Schutzberechtigte unzumutbar ist:

"Bei der Beurteilung der Frage, welche Handlungen einem subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Beschaffung eines Nationalpasses zumutbar sind, ist dessen besondere Gefährdungssituation zu berücksichti­gen. Geht die Gefährdung, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus geführt hat, vom Staat selbst aus, ist im Einzelfall darauf abzustellen, ob die konkret zur Passbeschaffung geforderte Handlung einer erneuten Unterschutzstellung entspricht. Eine Unterschutzstellung kann bei einem eritreischen Staats­angehörigen insbesondere dann vorliegen, wenn die Beantragung und Annahme eines Nationalpasses mit staatsbürgerlichen Pflichten wie der Entrichtung der sog. Aufbausteuer verbunden wird [...]."

(Amtliche Leitsätze; sich anschließend an: VGH Bayern, Beschluss vom 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 - asyl.net: M26753; entgegen: OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 (Asylmagazin 9/2021, S. 346 ff.) - asyl.net: M29586; siehe auch: VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.06.2021 - 11 A 38/20 - asyl.net: M29914)

Schlagwörter: Eritrea, subsidiärer Schutz, Reiseausweis für Ausländer, Passbeschaffung, Unzumutbarkeit, Nationalpass, Nationaldienst, Pass,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 4, AufenthV § 6 S. 1, AsylG § 4, GG Art. 2 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

22 Die Ablehnung des Antrags auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer durch die Verfügung des Landratsamts Karlsruhe vom 10.06.2020 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 18.09.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). [...]

24 Nach § 5 Abs. 1 AufenthV kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. [...]

26 Der Kläger kann einen eritreischen Nationalpass nicht auf zumutbare Weise erlangen (1.). Die Erteilung eines Reiseausweises ist auch nicht nach § 5 Abs. 4 AufenthV ausgeschlossen (2.). Liegen – wie hier – die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 i.V.m. § 6 S. 1 Nr. 2 1. Alt. AufenthV vor, steht die Erteilung des Reiseausweises grundsätzlich im Ermessen der Behörde, dessen Ausübung die Gerichte in den Grenzen des § 114 VwGO kontrollieren. Vorliegend ist dieses Ermessen allerdings durch die Regelung des Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) derart reduziert, dass die Erteilung des Reiseausweises die einzig mögliche ermessensfehlerfreie Entscheidung darstellt (3.). Der Umstand, dass der Kläger im Ergebnis ebenso behandelt wird wie ein Flüchtling, stellt keinen Verstoß gegen die in Art. 25 der Qualifikationsrichtlinie enthaltene Wertung dar (4.). [...]

28 Vorliegend scheitert die Zumutbarkeit der Vorsprache bei der eritreischen Auslandsvertretung nicht an dem subsidiären Schutzstatus des Klägers (a.). Eine solche Vorsprache führt auch nicht zu einer Gefährdung seiner noch in Eritrea lebenden Verwandten (b.) Allerdings kann vom Kläger nicht verlangt werden, die sog. Aufbausteuer an den eritreischen Staat zu entrichten, deren Zahlung Voraussetzung für die Ausstellung eines Nationalpasses an einen im Ausland lebenden Eritreer ist (c.). Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung zudem aus einer bestehenden Verpflichtung zur Abgabe einer sog. Reueerklärung folgt (d.).

29 a. Im Asylverfahren des Klägers (A 9 K 495/17) wurde das Bundesamt durch das rechtskräftige Urteil des VG Karlsruhe vom 14.05.2019 verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen. Das Bundesamt ist dieser Verpflichtung mit Bescheid vom 12.07.2019 nachgekommen. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes wurde im Asylurteil mit einer dem Kläger drohenden Einziehung zum Militär- bzw. Nationaldienst begründet. [...]

30 Subsidiär Schutzberechtigten ist es allerdings grundsätzlich zumutbar, sich bei den Auslandsvertretungen ihres Herkunftsstaats um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 18.03.2021, a.a.O. Rn. 32; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.05.2016 – 18 A 951/15 –, juris Rn. 5; Bayerischer VGH, Beschluss vom 17.10.2018, a.a.O. Rn. 7; VG Gießen, Urteil vom 28.07.2015 – 6 K 3108/15.GI –, juris Rn.17). Ihre Rechtsstellung in Bezug auf die Erlangung von Reisedokumenten ist in Art. 25 der Qualifikationsrichtlinie anders geregelt als jene anerkannter Flüchtlinge. [...]

32 Anders als bei Flüchtlingen kommt es bei subsidiär Schutzberechtigten demnach darauf an, ob die Beschaffung eines nationalen Passes möglich ist. Deshalb kann der subsidiäre Schutzstatus allein nicht zur Unzumutbarkeit der Passbeschaffung führen, da ansonsten in Bezug auf die Ausstellung von Reisedokumenten eine Gleichbehandlung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten erfolgen würde. Eine solche – pauschale – Gleichstellung ist in Art. 25 der Qualifikationsrichtlinie gerade nicht vorgesehen und wird durch diese Regelung auch nicht beabsichtigt. [...]

33 Vorliegend ist auch nicht aufgrund eines "wertenden Vergleichs der Fluchtgründe" des subsidiär schutzberechtigten Klägers mit der Situation eines anerkannten Flüchtlings von einer Unzumutbarkeit der Vorsprache bei der eritreischen Auslandsniederlassung auszugehen (ebenfalls in Bezug auf den Militärdienst in Eritrea verneinend: VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.06.2021 – 11 A 38/20 –, juris Rn. 23 und 24; vgl. auch Urteil vom 25.06.2021 – 11 A 270/20 –, juris Rn. 25; a. A. jedoch: VG Köln, Urteil vom 04.12.2019 – 5 K 7317/18 –, juris Rn. 37; VG Würzburg, Gerichtsbescheid vom 26.01.2015 – W 7 14.1220 –, juris Rn. 25). Schutzgrund des Flüchtlingsstatus ist der Ausschluss aus der staatlichen Friedensordnung aufgrund eines bestimmten Merkmals. Damit ist die Gefahr eines ernsthaften Schadens selbst dann nicht vergleichbar, wenn sie bei subsidiär Schutzberechtigten vom Staat ausgeht, sofern dieser – wie vorliegend – seine Staatsangehörigen generell und undifferenziert schlecht behandelt (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 18.03.2021, a.a.O.; dazu auch VG Wiesbaden, Urteil vom 08.06.2020 – 4 K 2002/19.WI –, juris Rn. 20). [...]

38 c. Allerdings führt die Verpflichtung, dem eritreischen Staat eine sog. Aufbausteuer zu zahlen, im Fall des Klägers zur Unzumutbarkeit der Beschaffung eines Nationalpasses.

39 Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger diese Zahlung leisten müsste, um einen Nationalpass von den eritreischen Behörden erhalten zu können (aa.). Die Zahlung ist keine gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 4 AufenthV für die Passausstellung zu entrichtende Gebühr, sondern eine durch den eritreischen Staat erhobene Steuer (bb.). Zwar handelt es sich weder um eine willkürlich erhobene noch um eine nachweislich völkerrechtswidrig eingesetzte Steuer (cc.), jedoch folgt die individuelle Unzumutbarkeit für den Kläger daraus, dass er mit seiner Zahlung den Haushalt desjenigen Staates unterstützen müsste, vor dem er in der Bundesrepublik subsidiären Schutz genießt (dd.). [...]

48 Bei der Beurteilung der Frage, welche Handlungen dem Kläger in Bezug auf die Beschaffung eines Nationalpasses zumutbar sind, kommt seinem Status als subsidiär Schutzberechtigter eine maßgebliche Bedeutung zu. Bei einem Schutzberechtigten ist dessen besondere Gefährdungssituation zu berücksichtigen. Hierbei ist zu würdigen, ob die Gefährdung, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus geführt hat, von staatlichen Akteuren ausgeht. Dies ist vorliegend der Fall. Bei der dem Kläger in Eritrea im Fall seiner Einziehung zum Militär- oder Nationaldienst drohenden unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung ist der eritreische Staat selbst der Akteur i.S.d. § 4 Abs. 1 und 3 S. 1, § 3c Nr. 1 AsylG. In einer solchen Konstellation muss im Einzelfall bezüglich der Zumutbarkeit vorzunehmender Handlungen u.a. darauf abgestellt werden, ob die konkret geforderte Handlung einer erneuten Unterschutzstellung entspricht (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 17.10.2018 – 19 ZB 15.428 –, juris Rn. 12). [...]

50 Der Kläger würde sich durch die Zahlung der sog. Aufbausteuer an den eritreischen Staat nicht lediglich dessen Rechtsordnung unterwerfen und zu diesem in eine rechtliche Beziehung eintreten. Er würde darüber hinaus durch seine Zahlung den ihn bedrohenden Staat aktiv unterstützen. Wie vorstehend dargelegt, handelt es sich bei der Zahlung der sog. Aufbausteuer gerade nicht um eine für die Passausstellung zu entrichtende Gebühr, sondern um einen – nicht unerheblichen – Beitrag zur Finanzierung des eritreischen Staatshaushalts. Eine solche Handlung, die bei wertender Betrachtung mit einer erneuten freiwilligen Unterschutzstellung gleichzusetzen ist, kann vom Kläger – auch unter Beachtung der Passhoheit des eritreischen Staates – nicht verlangt werden. [...]

71 b. Da auch nach der Neufassung des Art. 25 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie die Erteilung von Reisedokumenten an subsidiär Schutzberechtigte – anders als bei Flüchtlingen nach Art. 25 Abs. 1 – voraussetzt, dass die Betroffenen keinen nationalen Pass erhalten können, wird insoweit eine Ungleichbehandlung in Bezug auf die Erteilung von Reisedokumenten von der Qualifikationsrichtlinie nach wie vor als sachlich gerechtfertigt angesehen. [...]

74 Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen der grundsätzlich bedeutsamen Frage zuzulassen, welche zur Passbeschaffung erforderlichen Handlungen einem eritreischen Staatsangehörigen, der den subsidiären Schutzstatus wegen einer vom eritreischen Staat ausgehenden Gefährdung genießt, zuzumuten sind. [...]