VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 17.10.2018 - 19 ZB 15.428 - asyl.net: M26753
https://www.asyl.net/rsdb/M26753
Leitsatz:

Zur Unzumutbarkeit der Passbeschaffung eritreischer Staatsangehöriger mit subsidiärem Schutzstatus:

1. Ob subsidiär Schutzberechtigten die Beschaffung eines eritreischen Reisepasses unzumutbar ist, kann nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls entschieden werden. Dabei ist unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie darauf abzustellen, ob den Betroffenen bei Erlangung eines Nationalpasses im Fall einer Reise ins Ausland eine Abschiebung in das Land drohen könnte, vor welchem sie Schutz ersucht haben, ob die Verfolgungssituation im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbar ist und ob die Gefährdung oder Bedrohung, die zur Anerkennung des subsidiären Schutzstatus geführt hat, von staatlichen Akteuren ausgeht.

2. Geht der drohende ernsthafte Schaden auf eine gezielte Bedrohung durch staatliche Behörden zurück und befürchtet der Betroffene eine Gefährdung seiner im Heimatland lebenden Verwandten, so kann eine Unzumutbarkeit vorliegen. Hierbei ist auch darauf abzustellen, ob die Passbeschaffung einer erneuten Unterschutzstellung entspricht. Eine freiwillige Unterschutzstellung kann insbesondere dann vorliegen, wenn die Beantragung und Annahme eines Nationalpasses mit staatsbürgerlichen Pflichten wie der Entrichtung einer sog. Aufbausteuer verbunden wird.

(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf VGH Bayern, Beschluss vom 10.02.2016 - 19 ZB 14.2708 - asyl.net: M24404)

Schlagwörter: Eritrea, subsidiärer Schutz, Passpflicht, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Reiseausweis für Ausländer, Aufenthaltsverordnung, Verwandte, Gefahr für Verwandte, Unzumutbarkeit, Qualifikationsrichtlinie, Unterschutzstellung, Nationalpass, Aufbausteuer, ernsthafter Schaden,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 25,
Auszüge:

[...]

3 [...] Ob es den Klägern gleichwohl nach den Umständen des Einzelfalls unzumutbar war, einen Nationalpass zu erlangen, wäre eine im Rahmen des Hauptsache- bzw. Berufungsverfahrens zu klärende Frage gewesen, von deren Beantwortung der Erfolg des Rechtsschutzbegehrens abhängig gewesen wäre (2.).

4 1. Die pauschale Annahme des Verwaltungsgerichts, das eine konkrete Unzumutbarkeit im Einzelfall ausdrücklich offen gelassen hat, die Stellung als subsidiär Schutzberechtigte begründe per se eine Unzumutbarkeit der Erlangung eines Nationalpasses im Sinne von § 5 Abs. 1 AufenthV, ist unzutreffend und mit dem Wortlaut von Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU nicht zu vereinbaren.

5 Nach § 5 Abs. 1 AufenthV kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Welche konkreten Anforderungen an das Vorliegen der Unzumutbarkeit zu stellen sind, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Passes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer zunächst auf die Möglichkeit der Ausstellung eines Passes durch seinen Heimatstaat verweist und die Erteilung eines Reiseausweises erst dann in Betracht zieht, wenn diese Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind (vgl. OVG NRW, B.v. 17.5.2016 - 18 A 951/15 - NVwZ-RR 2016, 678; B.v. 17.5.2016 - 8 A 91/15 - juris Rn. 3 m.w.N.; für den Status nach § 60 Abs. 7 AufenthG vgl. BayVGH, B.v. 13.6.2016 - 10 C 16.773 – juris). [...]

8 Im Unterschied zu anerkannten Flüchtlingen stellt Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU für subsidiär Schutzberechtigte ausdrücklich darauf ab, dass die Ausstellung von Reisedokumenten nur dann zu erfolgen hat, wenn diese Personen keinen nationalen Pass erhalten können (z.B. mangels funktionierender Konsularbehörden, vgl. BR-Drs. 1017/01, S. 34).

9 Bei der zu prüfenden Zumutbarkeit der Erlangung eines Nationalpasses handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt und hinsichtlich dessen Anwendung die Behörde keinen Ermessensspielraum besitzt. Die Frage, ob die Vorsprache bei der Heimatvertretung einem Ausländer zugemutet werden darf, lässt sich dabei nicht allgemeingültig, sondern nur nach Maßgabe der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilen (vgl. BVerwG, B.v. 15.6.2006 - 1 B 54/06 - juris; BayVGH, B.v. 13.6.2016 - 10 C 16.773 - juris Rn. 17; U.v. 18.1.2011 - 19 B 10.2157 - juris Rn. 24). Im Grundsatz können hierfür nachweislich erfolglose Bemühungen zur Erlangung eines Nationalpasses gefordert werden (vgl. BayVGH, B.v. 13.6.2016 a.a.O.; OVG NRW, B.v. 17.5.2016 - 8 A 91/15 - juris Rn. 3 m.w.N.; HessVGH B.v. 1.8.2016 - 3 A 959/16.Z - juris). Dies gilt auch für Personen mit einem subsidiären Schutzstatus.

10 Die generelle Unzumutbarkeit einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung zum Zwecke der Passbeschaffung folgt weder aus der Stellung als subsidiär Schutzberechtigter noch aus § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn der Ausländer sich freiwillig durch die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist auf subsidiär Schutzberechtigte nicht anwendbar.

11 2. Somit kommt es für den Erfolg des Rechtsschutzbegehrens der Kläger entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts darauf an, ob ihnen nach den konkreten Umständen des Einzelfalls etwa wegen einer Gefährdung von Verwandten in Eritrea und einer möglicherweise zu leistenden Aufbausteuer die Vorsprache bei einer Auslandsvertretung zum Zwecke der Passbeschaffung unzumutbar war. Mangels substantiierter Angaben hätte es hierzu weiterer Aufklärung bedurft.

12 Die Anforderungen an die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Passerlangung sind unter Berücksichtigung der besonderen Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituation der Schutzberechtigten nach den Umständen des Einzelfalls zu stellen. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob ihnen die Vorsprache im Konsulat ihres Herkunftsstaates zwecks Beschaffung eines Nationalpasses zumutbar ist, oder ob ihnen wegen Unzumutbarkeit gerade dieser Handlung durch die Ausländerbehörde ein Reiseausweis für Ausländer auszustellen ist. Dabei ist der Überlegung, dass der oder dem Betroffenen bei Inbesitznahme eines Nationalpasses im Fall einer Reise ins Ausland eine Abschiebung in das ihm/ihr ausweislich des Passes Schutz gewährende Land drohen könnte, Bedeutung beizumessen (vgl. Bender in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 3 AufenthG, Rn. 16). Im Hinblick auf die Zumutbarkeit ist im Einzelfall zu prüfen, ob die verfolgungsrechtliche Situation bei einer wertenden Betrachtung im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 18.1.2011 - 19 B 10.2157 - juris Rn. 31). Auch ist im Einzelfall zu würdigen, ob die Gefährdung oder Bedrohung, die zur Anerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG geführt hat, von staatlichen Akteuren ausgeht. Geht der drohende ernsthafte Schaden auf eine gezielte Bedrohung durch staatliche Behörden zurück, und befürchtet der Betroffene eine Gefährdung seiner im Heimatland lebenden Verwandten, so kann sich eine Passerlangung als unzumutbar bzw. unmöglich erweisen (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, Kapitel 19, § 57 Rn. 12). Bei der Zumutbarkeit der vorzunehmenden Handlungen ist im Einzelfall darauf abzustellen, ob diese einer erneuten Unterschutzstellung entspricht. Eine freiwillige Unterschutzstellung kann insbesondere dann vorliegen, wenn die Beantragung und Annahme eines Nationalpasses mit staatsbürgerlichen Pflichten wie der Entrichtung einer sogenannten Aufbausteuer verbunden wird. [...]