OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 03.05.2022 - 6 Bf 113/21 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 375 ff.) - asyl.net: M30780
https://www.asyl.net/rsdb/m30780
Leitsatz:

Abschiebung einer psychisch kranken Frau und ihrer minderjährigen Kinder ohne Ehemann und Vater rechtswidrig:

1. Die Rechtmäßigkeit bereits erfolgter Abschiebungen ist aus behördlicher Sicht bei ihrer Durchführung - d.h. ex ante - zu beurteilen.

2. Ist ein Elternteil aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, elterliche Fürsorge und Schutz für die gemeinsamen Kinder zu bieten, kommt eine getrennte Abschiebung nur dann in Betracht, wenn besondere Schutzvorkehrungen für die Kinder getroffen wurden. Die Situation der Kinder ist dann nämlich mit der Situation unbegleiteter Minderjähriger vergleichbar. Entsprechend der Wertung des § 58 Abs. 1a AufenthG müssen sich Ausländerbehörden dann im Einzelfall die Überzeugungsgewissheit verschaffen, dass im Zielstaat eine Übergabe der Kinder an ein Familienmitglied, eine zur Personensorge berechtigten Person oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung erfolgt. In einer solchen Konstellation sind auch Schutzvorkehrungen für den eigentlichen Transportvorgang zu treffen, da sich die Kinder in einer höchst belastenden Situation ohne elterlichen Beistand befinden.

3. Eine psychisch kranke Person, die nicht nur auf medizinische Begleitung, sondern darüber hinaus auf umfassende familiäre Fürsorge und Betreuung durch ihre*n Ehepartner*in angewiesen ist, darf nicht ohne diese*n abgeschoben werden, sofern nicht Vorkehrungen für den Verlust an familiärer Unterstützung getroffen wurden.

4. Eine Abschiebung ist rechtlich unmöglich, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand der abzuschiebenden Person durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen sind nicht nur erfüllt, wenn und solange die Person ohne Gefährdung der Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche - außerhalb des Transportvorgangs - eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Das in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung bzw. mit vorbereitenden Handlungen wie der Anhörung zur Ausreisepflicht und schließt auch eine Übergabe in ärztliche Obhut nach Ankunft im Zielstaat ein. Im Einzelfall kann Anlass zu einer näheren amts- oder fachärztlichen Abklärung bestehen, ob z.B. eine Suizidgefahr bereits zwischen der Ankündigung und der Durchführung der Abschiebung zu bejahen ist.

5. Beabsichtigt die Ausländerbehörde, eine psychisch kranke Person getrennt von der*dem familiäre Fürsorge und Betreuung leistenden Ehepartner*in abzuschieben, muss sie aus Gründen des Gesundheitsschutzes zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit eine ärztliche Stellungnahme zu den gesundheitlichen Folgen einer getrennt erfolgten Abschiebung einholen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Schutz von Ehe und Familie, Kindeswohl, psychische Erkrankung, familiäre Beistandsgemeinschaft, medizinische Versorgung, Attest, begleitete Abschiebung, Reiseunfähigkeit, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 58 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

2. Die Klage ist auch begründet. Die Abschiebung der Kläger war rechtswidrig. Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebung ist in den Fällen, in denen der Ausländer - wie hier - bereits abgeschoben ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Abschiebung. [...] Die Rechtmäßigkeit bereits erfolgter Abschiebungen ist daher aus behördlicher Sicht bei ihrer Durchführung - ex ante - zu beurteilen (BVerwG, Urt. v. 21.8.2018, 1 C 21.17, BVerwGE 162, 382, juris Rn. 15; BVerwG, Urt. v. 16.10.2012, 10 C 6.12, BVerwGE 144,326, juris Rn. 22). [...]

Gemessen daran hätten die Kläger nicht ohne den Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater der Kläger zu 2. - 4. abgeschoben werden dürfen. Zwar konnte die Beklagte im Zeitpunkt der Abschiebung davon ausgehen, dass eine getrennte Abschiebung lediglich zu einem Trennungszeitraum von wenigen Tagen, höchstens jedoch von ein bzw. zwei Wochen führen würde. [...]

Aber auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer zeitnahen Zusammenführung im Heimatland war eine isolierte Abschiebung der Kläger nicht mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. [...]

Die Kläger zu 2. - 4. waren zum Zeitpunkt der Abschiebung 3, 9 und 12 Jahre alt. Sie waren damit erkennbar noch in einem Alter, in dem sie umfänglich auf die elterliche Fürsorge und den elterlichen Schutz angewiesen waren. Dies gilt im besonderen Maße für die Klägerin zu 4., bei der es sich zum Zeitpunkt der Abschiebung um ein Kleinkind gehandelt hat, die auch nur kurze Zeiträume nicht ohne elterliche Fürsorge sein konnte. Elterlichen Beistand hätte zum Zeitpunkt der Abschiebung aber allein ihr Vater bieten können. Die Klägerin zu 1. war nach den bei der Abschiebung vorliegenden Erkenntnissen nicht ansatzweise in der Lage, ihren Kindern elterlichen Schutz und Beistand zu bieten. Sie war vielmehr selbst umfassend auf eine familiäre Unterstützung angewiesen. [...]

Die Situation der Kläger zu 2. - 4. nach der Trennung von ihrem Vater war danach mit der unbegleiteter Minderjähriger vergleichbar. Die Hilfslosigkeit der Klägerin zu 1. hat die ohnehin belastende Situation für die Kläger zu 2. - 4. im Vergleich dazu sogar noch verschärft. Ob eine von dem Ehemann bzw. Vater getrennte Abschiebung der Kläger in dieser Situation schon aus grundsätzlichen Erwägungen des Familienschutzes nicht hätte durchgeführt werden dürfen, bedarf keiner Entscheidung. Es wären zumindest besondere Schutzvorkehrungen zugunsten der Kläger zu 2. - 4. erforderlich gewesen, die die Beklagte aber nicht getroffen hatte.

Besondere Schutzvorkehrungen der Beklagten wären jedenfalls für die Situation unmittelbar nach Ankunft der Kläger am Zielflughafen zu treffen gewesen. Hier kann auf die Wertungen des § 58 Abs. 1a AufenthG zurückgegriffen werden. In dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Abschiebung unbegleiteter Minderjähriger an strenge Anforderungen geknüpft. Danach müssen sich die Ausländerbehörden - und ggf. die Verwaltungsgerichte - in jedem Einzelfall die Überzeugungsgewissheit davon verschaffen, dass die Übergabe des unbegleiteten Minderjährigen an eine in der Vorschrift genannte Person oder Einrichtung nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich auch erfolgen wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.6.2013, 10 C 13.12, BVerwGE 147. 8, juris Rn. 18). [...]

Die Zusage der serbischen Behörden, dass die Klägerin zu 1. von einem Arzt oder Psychiater in Empfang genommen werden sollte, ändert nichts daran, dass die Kläger zu 2. - 4. allein aufgrund der von ihrem Vater getrennten Abschiebung am Flughafen in Belgrad keine elterliche Bezugsperson mehr hatten, die die Verantwortung für sie in dieser Situation hätte übernehmen können. [...]

Schutzvorkehrungen wären darüber hinaus auch für den eigentlichen Transportvorgang erforderlich gewesen. Auch insoweit waren die Kläger zu 2. - 4. in einer höchst belastenden Situation ohne elterlichen Beistand. [...]

bb) Auch die Klägerin zu 1. hätte nicht ohne ihren Ehemann abgeschoben werden dürfen.

Es kann dahinstehen, ob die Rechtswidrigkeit der Abschiebung der Klägerin zu 1. allein schon aus dem Umstand folgt, dass sie tatsächlich gemeinsam mit ihren Kindern abgeschoben worden ist und die im Hinblick auf ihre Kinder begründete Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG notwendigerweise auch ihrer Abschiebung anhaften könnte (vgl. zu den Schutzwirkungen von Art. 6Abs. 1 GG BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987, 2 BvR 1226/83 u.a., BVerfGE 76, 1, juris Rn. 91 ). Die Abschiebung der Klägerin zu 1. ohne ihren Ehemann begründete auch für sich genommen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG. Die Klägerin zu 1. war nicht nur auf eine medizinische Begleitung, sondern darüber hinaus auf eine umfassende familiäre Fürsorge und Betreuung angewiesen, wie sie Art. 6 Abs. 1 GG auch zwischen erwachsenen Familienmitglieder schützt. Das folgt erkennbar schon aus den eigenen Feststellungen der Beklagten bzw. den auf Veranlassung der Beklagten eingeholten Stellungnahmen. [...]

Danach war die Klägerin zu 1. zum Zeitpunkt der Abschiebung erkennbar nicht allein auf eine medizinische Versorgung, sondern auch und gerade die Fürsorge und den Beistand ihrer Familie, insbesondere ihres Ehemannes angewiesen, um den auch für die Beklagte erkennbaren Verlust ihrer Autonomie in Würde zu kompensieren. Das galt in diesem Fall im Hinblick auf das Ausmaß der ihr gewährten Fürsorge auch schon für eine Trennung von wenigen Tagen bis zwei Wochen, weil die Beklagte in einer auch für die Klägerin zu 1. besonders belastenden Situation einer Abschiebung keine weiteren Vorkehrungen für den Verlust an familiärer Unterstützung organisiert bzw. die Familie nicht in die Lage versetzt hat, entsprechende Vorkehrungen im Heimatland zu treffen. [...]

b) Die Abschiebung der Klägerin zu 1. war zudem auch aus gesundheitlichen Gründen rechtlich unmöglich.

Die Abschiebung eines Ausländers ist rechtlich unmöglich, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche - außerhalb des Transportvorgangs - eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn). Auch eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen. Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer bzw. - wegen der jetzt geltenden Regelung des § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG - mit ähnlichen vorbereitenden Handlungen, wie Anhörungen des Ausländers zur Ausreisepflicht und schließt gegebenenfalls eine Übergabe in ärztliche Obhut in Absprache mit den örtlich zuständigen Stellen nach Ankunft im Zielstaat ein (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 13.1.2015, 1 Bs 211/14, InfAuslR 2015, 236, juris Rn. 14 ff. m.w.N.).

Im Einzelfall kann, selbst wenn eine ärztliche Begleitung der Abschiebung zugesichert wird, bei entsprechenden Anhaltspunkten zunächst Anlass zu einer näheren amts- oder fachärztlichen Abklärung bestehen, ob z.B. eine Suizidgefahr bereits für den Zeitraum zwischen der Ankündigung und der Durchführung der Abschiebung zu bejahen ist. Gegebenenfalls ist auch zu klären, ob in der Person des Antragstellers zunächst bestimmte gesundheitliche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, um eine begleitete Abschiebung durchführen zu können (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 13.1.2015, 1 Bs 211/14, NVwZ-RR 2015, 478, juris Rn. 19).

Gemessen daran war die Abschiebung der Klägerin zu 1. zwar nicht grundsätzlich aufgrund ihres Gesundheitszustandes ausgeschlossen. [...]

Allerdings verhalten sich weder das von der Beklagten berücksichtigte Gutachten des Herrn Dr. ... noch die reisemedizinischen Stellungnahmen der Ärztin Dr. … zu den möglichen Folgen einer - sei es auch nur vorübergehenden - Trennung der Klägerin zu 1. von ihrem Ehemann infolge einer getrennten Abschiebung. Ein solches Vergehen war nach Aktenlage von der Beklagten zu keinem Zeitpunkt auch nur in Erwägung gezogen worden. Eine ärztliche Stellungnahme hierzu hat die Beklagten nicht eingeholt. Hierzu hätte nach den dargestellten Grundsätzen aber eine rechtliche Verpflichtung aus Gründen des Gesundheitsschutzes zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit bestanden. [...] Es wäre insbesondere zu klären gewesen, ob bereits die Abschiebung als solche ohne ihren Ehemann zu einer erheblichen Gesundheitsverschlechterung hätte führen können. [...]