VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 27.06.2022 - 15 B 371/22.A - asyl.net: M30777
https://www.asyl.net/rsdb/m30777
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Abschiebungsandrohung für in Polen anerkannte Familie mit kleinen Kindern:

1. Es liegen gewichtige Gründe für die Annahme vor, dass der Abschiebung einer in Polen als schutzberechtigt anerkannten Familie mit zwei kleinen Kindern Abschiebungsverbote entgegenstehen.

2. Die Aufnahmekapazitäten Polens sind angesichts des Krieges in der Ukraine erschöpft. Es besteht die Gefahr, dass die Antragstellenden nach ihrer Ankunft über einen längeren Zeitraum obdachlos sein werden. Ohne eine konkret-individuelle Zusicherung Polens, dass die wegen der kleinen Kinder besonders schutzbedürftige Familie längerfristig untergebracht und versorgt wird, droht eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung entgegen Art. 3 EMRK.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Polen, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, Anerkannte, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Ukraine-Krieg, Obdachlosigkeit, Aufnahmekapazitäten, besonders schutzbedürftig, Kleinkind, Kinder,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Es liegen gewichtige Gründe für die Annahme vor, dass einer Abschiebung der Antragsteller - als Familie mit einem einjährigen und einem vierjährigen Kind - nach Polen ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK entgegensteht. [...]

Die zuvor dargestellte Lage für anerkannte Schutzberechtigte dürfte sich insbesondere im Hinblick auf den mangelnden Wohnraum vor dem Hintergrund des Flüchtlingszustroms nach Polen infolge des Krieges in der Ukraine erheblich verschärft haben. So sind zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 10. Juni 2022 rund 3,8 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen geflohen; 1,2 Millionen Menschen wurden seither als Flüchtlinge aus der Ukraine registriert (vgl. UNHCR, Ukraine Emergency - UNHCR Poland Factsheet vom 13.6.2022, abrufbar unter reliefweb.int/report/poland/ukraine-emergency-unhcr-poland-factsheet-10-june-2022, zuletzt abgerufen am 22.6.2022). Damit hat sich Polen innerhalb weniger Wochen von einem Land, das relativ wenige Flüchtlinge aufgenommen hat, zu einem der wichtigsten Aufnahmeländer für Flüchtlinge weltweit entwickelt. [...]

Die zuvor beschriebene Fluchtbewegung führt zu einer erheblichen Verknappung der ohnehin schon begrenzten Wohnungskapazitäten. [...]

Diese Erkenntnislage zugrunde legend geht die Einzelrichterin unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des hier vorliegenden Einzelfalls davon aus, dass den Antragstellern - bei denen es sich als Familie mit kleinen Kindern um besonders schutzbedürftige Personen handelt und deren Bedarf mit Blick auf die Notwendigkeit einer kindgerechten Unterbringung deutlich erhöht ist - im Falle einer Abschiebung nach Polen ohne eine konkret-individuelle Zusicherung einer längerfristigen Unterbringung und Versorgung von Seiten der polnischen Behörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht. Jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. AsylG) besteht die Gefahr, dass die Antragsteller einer Situation ausgesetzt sein werden, in der sie nach ihrer Ankunft über einen längeren Zeitraum keinen effektiven Zugang zu Obdach haben und damit "auf der Straße" sich selbst überlassen sein werden. [...]

Die Einzelrichterin geht aufgrund der vorgenannten Erkenntnismittellage mit dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Beschluss vom 12.42022-12 L 627/22.A -, juris) und dem Verwaltungsgericht Magdeburg (Urteil vom 25.5.2022 - 3 A 111/22 MD -, juris) davon aus, dass die Aufnahmekapazitäten Polens angesichts des Krieges in der Ukraine zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erschöpft sind. [...]

Es ist nicht ersichtlich, dass sich diese Sachlage in absehbarer Zeit ändern wird. [...]