OVG Sachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 27.04.2022 - 5 A 492/21.A - asyl.net: M30716
https://www.asyl.net/rsdb/m30716
Leitsatz:

Anerkannten droht in Griechenland unmenschliche oder erniedrigende Behandlung:

1. Für in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte besteht grundsätzlich die ernsthafte Gefahr, dass sie bei ihrer Rückkehr die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen können und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK droht.

2. Auch alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige anerkannte Schutzberechtigte werden bei einer Rückkehr über einen absehbaren Zeitraum mit großer Wahrscheinlichkeit obdachlos sein.

3. Angesichts der Arbeitsmarktlage ist es ohne griechische Sprachkenntnisse nur schwer möglich, Arbeit zu finden, um den Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten.

4. Weder staatliche noch nichtstaatliche Stellen versetzen Schutzberechtigte in die Lage, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

(Leitsätze der Redaktion; anschließend an: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.01.2022 - A 4 S 2443/21 - asyl.net: M30387; OVG Bremen, Urteil vom 16.11.2021 - 1 LB 371/21 - asyl.net: M30224; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25.03.2021 - 7 B 10450/21.OVG - asyl.net: M29570; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A (Asylmagazin 3/2021, S. 92 f.); Parellelverfahren: 11 A 2982/20.A - asyl.net: M29253; anderer Ansicht: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16.02.2021 - 4 LA 259/19 (Asylmagazin 6/2021, S. 230 f.) - asyl.net: M29600)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, VwGO § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

42 [...] Für in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte besteht vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die ernsthafte Gefahr, dass sie im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum nicht befriedigen können und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK erfahren (so auch OVG NRW, Urt. v. 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris Rn. 32; Urt. v. 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20 -, juris Rn. 30; Beschl. v. 5. April 2022 - 11 A 314/22.A -, juris Rn. 44 ff.; NdsOVG, Urt. v. 19. April 2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 23; OVG Bremen, Urt. v. 16. November 2021 - 1 LB 371/21 -, juris Rn. 29; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 23. November 2021 - OVG 3 B 53.19 -, juris Rn. 23 f.; VGH BW, Urt. v. 27. Januar 2022 - A 4 S 2443/21 -, juris Rn. 23 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. vom 23. November 2021 - 3 B 53.19 -, juris Rn. 23 f.; a. A. OVG Schleswig, Urt. v. 6. September 2019 - 4 LB 17/18 -, juris Rn. 75 <betreffend alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige Männer>; vgl. ferner die (Nichtzulassungs-)Beschlüsse u. a. des OVG Saarland, Beschl. v. 15. April 2019 - 2 A 80/18 -, juris; BayVGH, Beschl. v. 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris; BayVGH, Beschl. v. 17. März 2020 - 23 ZB 18.33356 -, juris; OVG LSA, Beschl. v. 27. August 2020 - 3 L 138/20 -, juris).

43 1. Nach den dem Senat zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnissen ist es grundsätzlich auch für in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte, die alleinstehend, gesund und arbeitsfähig sind, ernsthaft wahrscheinlich, dass sie bei einer Rückkehr nach Griechenland über einen absehbaren Zeitraum obdachlos sein werden. [...]

46 b) In Griechenland wird für international Schutzberechtigte von staatlicher Seite kein Wohnraum bereitgestellt und es existiert keine staatliche Unterstützung beim Zugang zu Wohnraum (Pro Asyl/RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 5; AA-Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 3 f.). Es gibt keine staatlichen Sozialwohnungen (Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand: Juni 2021, S. 3). [...]

47 c) Zurückgeführte international Schutzberechtigte können in Griechenland grundsätzlich nicht in einer Flüchtlingsunterkunft unterkommen.

48 aa) Eine Ausnahme gilt für anerkannte Schutzberechtigte, in deren Fall die griechischen Behörden eine explizite Zusage zur Betreuung im jeweiligen Einzelfall gemacht haben. In diesem Fall wurden zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte, soweit bekannt, in der Vergangenheit im Flüchtlingslager Eleonas in Athen untergebracht (AA-Auskunft an VG Leipzig vom 28. Januar 2020, S. 1 f.; AA-Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 3). [...]

g) Zurückgeführte anerkannte Schutzberechtigte haben keinen Zugang zum Integrationsprogramm für international Schutzberechtigte "Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection" (HELIOS II). [...]

61 [...] Schutzberechtigte, die aus anderen Ländern nach Griechenland zurückkehren, sind vor diesem Hintergrund in aller Regel vom HELIOS-Programm ausgeschlossen (Pro Asyl/RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 7; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für [nach Griechenland zurückkehrende] Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 4 unter Verweis auf MIT, Februar 2021, S. 18 f.; AA-Auskunft an VG Leipzig vom 28. Januar 2020, S. 2). Laut IOM hat es keinen Fall gegeben, in dem anerkannte Schutzberechtigte, die die letzten Monate in einem anderen EU-Mitgliedstaat verbracht haben, Zugang zu HELIOS hatten (AA-Auskunft an VG Magdeburg vom 26. November 2020, S. 3).

62 h) Für zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte ist die Anmietung von Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt faktisch aussichtslos. [...]

67 i) Zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte haben zwar wie alle anerkannt Schutzberechtigten Anspruch auf wohnungsbezogene Sozialleistungen auf derselben Basis wie griechische Staatsbürger. Für anerkannt Schutzberechtigte gilt die Inländergleichbehandlung mit griechischen Staatsangehörigen (AA-Auskunft an VG Leipzig vom 28. Januar 2020, S. 2). In der Praxis erfüllen zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte jedoch meist nicht die hierfür erforderlichen Voraussetzungen, so auch der Kläger. [...]

69 j) Für zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte ist es nicht wahrscheinlich, über oder bei einer Nichtregierungsorganisation eine Unterkunft zu erhalten. [...]

74 k) Für zurückkehrende international Schutzberechtigte erscheint es aussichtslos, einen Platz in einer Obdachlosenunterkunft zur kurzfristigen Unterbringung zu erhalten. [...]

80 l) Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass zurückkehrenden anerkannten Schutzberechtigten grundsätzlich ausreichend zumutbare informelle Wohnmöglichkeiten zur Verfügung stehen. [...]

85 m) International Schutzberechtigten, die in Griechenland gerichtlich gegen die Nichtverfügbarkeit von menschenwürdigen Unterbringungsmöglichkeiten vorgehen wollen, steht kein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung (Pro Asyl/RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, Stellungnahme vom April 2021, S. 22). [...]

98 2. Bei einem anerkannten Schutzberechtigten ist grundsätzlich zu befürchten, dass er bei einer Rückkehr nach Griechenland nicht über die finanziellen Mittel verfügt, um seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

99 a) Es sind keine besonderen staatlichen Hilfsangebote für Rückkehrer bekannt, die diesen zumindest für die erste Zeit nach ihrer Rückkehr den Zugang zu Nahrungsmitteln gewährleisteten (AA-Auskunft an VG Leipzig vom 27. Dezember 2017, S. 3). Vielmehr gilt für anerkannte Schutzberechtigte grundsätzlich die Inländergleichbehandlung mit griechischen Staatsangehörigen und EU-Bürgern mit Aufenthaltsrecht in Griechenland, d. h. sie müssen nach der Anerkennung weitgehend selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen (Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand: Juni 2021, S. 1; AIDA, Country Report: Greece, 2020 Update, S. 245).

100 b) Der Zugang zum Arbeitsmarkt steht de iure dauerhaft und legal im Land lebenden Personen offen (AA-Auskunft an VG Greifswald vom 26. September 2018, S. 5). Voraussetzung ist eine gültige Aufenthaltserlaubnis (RESPOND, Working Papers, Juni 2020, S. 17 und 25). De facto ist es für zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte jedoch unwahrscheinlich, eine Arbeit zu finden. [...]

103 Schließlich ändern auch Vermittlungsbemühungen nichts daran, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt sehr schwierig ist, weil Griechenland bereits vor der Covid-19-Pandemie die höchste Arbeitslosenquote in der EU hatte (SFH, Factsheet Griechenland, August 2021, S. 2; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für [nach Griechenland zurückkehrende] Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 25). Vor allem mit Blick auf die Konkurrenzlage auf dem griechischen Arbeitsmarkt gestaltet sich die Arbeitssuche für anerkannte Schutzberechtigte deshalb äußert schwierig (Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand: Juni 2021, S. 6). Angesichts der Arbeitsmarktlage und ohne griechische Sprachkenntnisse ist es nur schwer möglich (AA-Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 7) bzw. beinahe aussichtslos, Arbeit zu finden, um den Lebensunterhalt bzw. die Kosten für die Anmietung von Wohnraum aus eigener Kraft bezahlen zu können (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 10. August 2021, S. 3). [...]

104 Die Covid-19-Pandemie verschlechtert die marginalen Möglichkeiten von anerkannten Schutzberechtigten, auch nur einer Hilfsarbeitstätigkeit nachzugehen, erheblich (Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand: Juni 2021, S. 6). Generell ist es so, dass sich die Versorgungssituation der griechischen Bevölkerung infolge der Covid-19-Pandemie und der insgesamt angespannten Wirtschaftslage schwierig gestaltet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 10. August 2021, S. 3).

Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Griechenland sowie Sprachbarrieren haben auch alleinreisende männliche Schutzberechtigte derzeit nur geringe Chancen, Zugang zu qualifizierter Arbeit zu finden. Faktische Zugangschancen in nennenswertem Umfang bieten sich in Einzelfällen und bei guten Sprachkenntnissen bei Nichtregierungsorganisationen als Dolmetscher, kultureller Mediator oder Team-Mitarbeiter (AA-Auskunft an VG Greifswald vom 26. September 2018, S. 2; AA-Auskunft an VG Berlin vom 11. Oktober 2017, S. 2 f.; AA-Auskunft an VG Hamburg vom 22. August 2017, S. 8; RESPOND, Working Papers, Juni 2020, S. 32). Im Fall des Klägers kann trotz seiner Fremdsprachenkenntnisse mit Englisch und etwas Deutsch, jedoch keinem Griechisch, nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass er eine solche nach den Erkenntnismitteln nur in Einzelfällen verfügbare Beschäftigung erhalten kann. [...]

c) In der Regel erfüllen zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte - und so auch der Kläger - nicht die Voraussetzungen für das garantierte Mindesteinkommen [...]

115 Für den Bezug der sozialen Grundsicherung ist ein zweijähriger ununterbrochener und legaler Aufenthalt in Griechenland in Form der Steuererklärung der Vorjahre nachzuweisen (Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand: Juni 2021, S. 5; AA-Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 5). Aus dem Ausland zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte - und so auch der Kläger - sind daher zunächst von einem Bezug ausgeschlossen (AA-Auskunft an VG Chemnitz vom 1. Februar 2019, S. 5).

116 d) Auch andere Sozialleistungen wie eine Familienförderung (monatlich ca. 10 € je Kind) oder der 2019 eingeführte Wohngeldzuschuss (70 € für eine Einzelperson, höchstens 210 € für einen Haushalt) verlangen den Nachweis eines - auch im Fall des Klägers nicht gegebenen - legalen Aufenthalts von zehn bzw. fünf Jahren Dauer. [...] Weitere staatliche Unterstützungen für besonders schutzbedürftige Gruppen sind zwar existent, aber nur schwer zugänglich: [...]

117 e) Die griechische Arbeitsagentur stellt seit Juni 2018 für alle anerkannt Schutzberechtigten eine Arbeitslosenkarte aus. Die Arbeitslosenkarte berechtigt zu folgenden Leistungen: Kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, kostenloser Eintritt in Museen, Ermäßigungen für Gas-, Wasser und Stromrechnungen, Rabatte in einigen Fast-Food-Restaurants, einige Mobilfunkangebote, einige ermäßigte berufliche Fortbildungsmaßnahmen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationen der Staatendokumentation, Griechenland, 1. Juni 2021, S. 27; AA-Auskunft an VG Chemnitz vom 1. Februar 2019, S. 4; AA-Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 5 f.). Allein mit Hilfe der Arbeitslosenkarte kann ein ansonsten mittelloser anerkannter Schutzberechtigter sein Existenzminimum aber ersichtlich nicht sichern (so auch OVG NRW, Urt. v. 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris Rn. 91; Urt. v. 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris Rn. 103; NdsOVG, Urt. v. 19. April 2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 70; OVG Bremen, Urt. v. 16. November 2021 - 1 LB 371/21 -, juris Rn. 62). Keine grundsätzlich andere rechtliche Bewertung ist gerechtfertigt bei zusätzlicher Inanspruchnahme der Angebote von Nichtregierungsorganisationen für Obdachlose (Suppenküchen, s. u. unter g)). [...]

123 Zwar hat es seine Berechtigung, die Hilfsmaßnahmen durch nichtstaatliche Stellen als elementares Auffangnetz gegen Hunger und Entbehrungen zu bezeichnen, Schutzberechtige werden dadurch jedoch nicht in die Lage versetzt, in Griechenland ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (OVG NRW, Urt. v. 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris Rn. 92 ff.; Urt. v. 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris Rn. 104 ff.; NdsOVG, Urt. v. 19. April 2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 72).

124 3. Der konkrete Einzelfall des Klägers rechtfertigt keine Abweichung von den oben unter 1. und 2. dargelegten grundsätzlichen Annahmen.

125 Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger finanzielle Unterstützung durch seine Herkunftsfamilie in Syrien oder seine Verwandtschaft in Deutschland erwarten kann. [...]