VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 08.04.2022 - 37 K 280/20 V - asyl.net: M30692
https://www.asyl.net/rsdb/m30692
Leitsatz:

Beim Kindernachzug muss Minderjährigkeit bei Asylantragstellung des Elternteils bestehen:

Für die Beurteilung der Minderjährigkeit eines Kindes, das Familiennachzug zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil begehrt, ist auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des stammberechtigten Elternteils abzustellen, wenn der Visumsantrag innerhalb von drei Monaten nach deren Anerkennung als Flüchtling gestellt wird.

(Leitsätze der Redaktion; sich anschließend an: GA Collins, Schlussanträge vom 16.12.2021 in der Rs. C-279/20, inzwischen entschieden: EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 (BR Deutschland gegen XC) - asyl.net: M30815)

Schlagwörter: Kindernachzug, minderjährig, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Familienzusammenführung, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 b), AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 29 Abs. 2, AufenthG § 36 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das Bundesverwaltungsgericht hat § 32 AufenthG bisher in gefestigter Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass das Kind zwar nicht mehr bei Erteilung des Visums, wohl aber in dem Zeitpunkt, in dem es den Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung stellt, noch minderjährig sein muss. [...]

Folgt man dieser Auslegung, wäre die Klägerin im hiesigen Verfahren nicht mehr als minderjährig anzusehen. Zum Zeitpunkt der förmlichen Visumsantragstellung im Rahmen der persönlichen Vorsprache in der Botschaft am 7. Februar 2018 war die Klägerin bereits volljährig. Zum Zeitpunkt der Online-Terminsregistrierung am 9. Dezember 2016 sowie zum Zeitpunkt der ersten fristwahrenden Anzeige am 17. Januar 2017 war sie hingegen noch minderjährig. Es kann hier dahinstehen, ob für die Visumsantragstellung – wie von der Klägerin vorgetragen – auf den früheren Zeitpunkt der fristwahrenden Anzeige am 17. Januar 2017 bzw. auf den noch früheren Zeitpunkt der Online-Terminsregistrierung am 9. Dezember 2016 abzustellen ist, da jedenfalls die zweite vom Bundesverwaltungsgericht vorgegebene Voraussetzung – die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Erteilung des Aufenthaltstitels an die Referenzperson – vorliegend nicht erfüllt ist. [...]

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jedoch mit Urteil vom 12. April 2018 in der Rechtssache C-550/16 in Bezug auf den in § 36 Abs. 1 AufenthG geregelten Nachzug zu minderjährigen Kindern entschieden, dass Art. 2 Buchstabe f) i.V.m. Art. 10 Abs. 3 Buchstabe a) der Familienzusammenführungsrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Ausländer, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird, und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als "Minderjähriger" im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. Demnach ist beim Familiennachzug zu unbegleiteten Minderjährigen für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – juris, Rn. 60). Um zu verhindern, dass ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling, der während des Asylverfahrens volljährig geworden, ohne jede zeitliche Begrenzung eine Familienzusammenführung erwirken kann, muss er seinen Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist, das heißt innerhalb von drei Monaten ab dem Tag der Flüchtlingszuerkennung, stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018, a.a.O., Rn. 61).

Dies wirft die Frage auf, ob die Rechtsprechung des EuGH auf den – hier vorliegenden – umgekehrten Fall des Nachzugs eines minderjährigen Kindes zu seinem als Flüchtling anerkanntem Elternteil übertragbar ist. Dies hätte zur Folge, dass ein Kind, das – wie im hiesigen Fall – zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags seines Elternteils noch unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig geworden ist, als minderjährig anzusehen wäre, wenn es den Antrag auf Familienzusammenführung binnen drei Monate nach Flüchtlingszuerkennung gestellt hat. Um zu klären, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit abzustellen ist, wenn ein Kind zu einem anerkannten Flüchtling nachziehen möchte, hat das Bundesverwaltungsgericht diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 23. April 2020, a.a.O., Leitsatz). [...]

Hierfür spricht insbesondere, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Rechtsauffassung des EuGH ein rein deklaratorischer Akt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018, a.a.O., Rn. 53). Daher hat jeder Ausländer, der die materiellen Voraussetzungen für die Flüchtlingszuerkennung erfüllt, ein subjektives Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und zwar noch bevor hierzu eine förmliche Entscheidung ergangen ist (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 54). [...]