OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 14.03.2022 - 4 A 107/18 - asyl.net: M30679
https://www.asyl.net/rsdb/m30679
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für Person aus Ruanda wegen bloßer Asylantragstellung im Ausland:

1. Die Ausreise aus Ruanda und die Beantragung internationalen Schutzes im Ausland begründen allein keine tatsächliche Gefahr der Verfolgung.

2. Liegen weitere Umstände vor, die den ruandischen Behörden bekannt sind und Anhaltspunkt für eine regimekritische Haltung sein können, besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung. Derartige Anhaltspunkte können exilpolitische Tätigkeiten, die Mitgliedschaft in einer Oppositionspartei oder öffentliche wie private regimekritische Äußerungen sein.

3. Grundsätzlich ist es für Frauen in Ruanda nicht leicht, eine Arbeitsmöglichkeit zu finden, um so für sich oder für die Familie Geld zu verdienen. Eine Frau mit abgeschlossenem Hochschulstudium und Erfahrung auf dem ruandischen Arbeitsmarkt wird jedoch in der Lage sein, ein Existenzminimum für sich und ihre Kinder zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion; Änderung von VG Hannover, Urteil vom 06.08.2018 - 4 A 428/18 (gleichlautend: 4 A 521/18) - asyl.net: M26597, welches die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen hatte)

Schlagwörter: Ruanda, Rwanda, Rückkehrgefährdung, Exilpolitik, Frauen, politische Verfolgung, Existenzgrundlage, Opposition,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

56 Die Menschenrechtslage in Ruanda hat sich in den letzten Jahren mit der Konsolidierung der inneren Sicherheit zwar grundsätzlich verbessert, sie bleibt jedoch problematisch. Es gibt zahlreiche Fälle von Amts-  und Machtmissbrauch, Einschränkungen der Meinungs-, Versammlungs-, Medien- und Vereinigungsfreiheit sowie der politischen Beeinflussung der Justiz (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ruanda, Stand: 26.6.2018, S. 11). Es kommt zu Verletzungen der Menschenrechte durch die Verhaftung und Misshandlung von politischen Gegnern, von Menschenrechtsaktivisten und von Einzelpersonen, welche nach Auffassung ruandischer Stellen eine Bedrohung für die staatliche Kontrolle und soziale Ordnung darstellen (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der  Staatendokumentation, Ruanda, Stand: 26.6.2018, S. 11). Nach dem Human Rights Report 2020 sind in Ruanda gravierende Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen in Form von rechtswidrigen oder willkürlichen Tötungen durch die Regierung; von willkürlichen Inhaftierungen; von politisch motivierten Repressalien gegen Personen, die sich außerhalb des Landes aufhalten; von willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in die Privatsphäre; von schwerwiegenden Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit, einschließlich von Gewaltandrohungen gegen Journalisten, Zensur und Sperrung von Websites sowie von erheblichen
Eingriffen in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, 30.3.2021, p. 3).

57 Personen, deren Ansichten von den ruandischen Behörden als Kritik an der Regierungspartei, der Regierung oder ihrer Politik eingestuft werden, müssen mit Schikanen, Einschüchterung, strafrechtlicher Verfolgung und langen Gefängnisstrafen rechnen (Dr. Bognitz, Gutachten "Politische und staatliche Verfolgung rwandischer Dissidenten, Oppositioneller und Regierungskritiker im In- und Ausland als Ursache von Flucht und Migration seit 2010", im Folgenden: Gutachten vom 9.2.2022, S. 6; Amnesty International, Ruanda 2019, Report vom 16.4.2020, S. 4; Dr. Hankel, Stellungahme an das VG Oldenburg vom 10.8.2013, S. 3 und an das VG Hannover vom 23.7.2018). Strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen werden unter anderem durch das gesetzliche Verbot von Hassreden und das Gesetz zur Ahndung der Leugnung des Genozids legitimiert, wobei sich nahezu jeglicher regierungskritische Widerstand als Verharmlosung des Genozids auslegen lässt (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 3 und S. 9). [...]

58 Politisch motivierte Repressalien und Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Stellen Ruandas erfolgen auch gegen ruandische Staatsbürger, die sich außerhalb des Landes aufhalten (USDOS, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, 30.3.2021, p. 13). [...]

59 Auch in Europa unterliegt die ruandische Diaspora einer staatlichen Kontrolle und Überwachung. Die Diaspora in Europa kann nach unterschiedlichen Migrationsgründen unterteilt werden: Ein Teil der Mitglieder der Diaspora in Europa hat Ruanda freiwillig, z.B. aus sozioökonomischen Gründen oder zu Ausbildungs- und Studienzwecken verlassen, andere Mitglieder mussten ihre Heimat unfreiwillig verlassen aufgrund der ethnischen und politischen Gewalt vor und nach dem Genozid 1994 und der (aktuellen) politischen Situation in Ruanda (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 5). [...]

60 Angehörige der ruandischen Diaspora geraten bei einer Rückkehr nach Ruanda in den besonderen Fokus der ruandischen Behörden und werden nach den Gründen ihres Auslandsaufenthalts befragt. Für ruandische Behörden ist es grundsätzlich von Interesse, was ein ruandischer Staatsbürger im Exil gemacht hat (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 20). Ruandische Behörden und  Sicherheitskräfte legen daher ein besonderes Augenmerk auf aus dem Exil zurückkehrende, vor allem politisch aktive ruandische Staatsangehörige (Amnesty International, Auskunft vom 29.1.2014 an das VG Hannover, S. 1). Bei der Einreise in das Land erfolgen Kontrollen durch die Grenzbehörden (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 20; Commissariat Général aux Réfugiés et aux Apatrides (CGRA), COI Focus: RWANDA, Le traitement réservé par les autorités nationales à leurs ressortissants de retour dans le pays, 26 mars 2021, im Folgenden: CGRA, COI Focus: RWANDA 26 mars 2021, p. 11). Ruander werden bei einer Rückkehr regelmäßig Befragungen über ihre Fluchtgründe unterzogen und es können Festnahmen und Inhaftierungen nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Braunschweig vom 23.8.2012, S. 2). Zum Teil werden aus den Angaben, die die Asylbewerber gemacht haben, Anschuldigen bis hin zu Anklagen konstruiert (Amnesty International, Auskunft an das VG Hannover vom 29.1.2014, S.2). Selbst wenn eine Befragung nicht am Flughafen in Kigali oder an anderen Grenzübertritten stattfindet, werden in der Regel entsprechende Nachforschungen bei einer Ansiedlung des Rückkehrers an einem bestimmten Ort erfolgen, da sich jede Person an den Orten, an denen sie sich länger aufhält, bei der dezentralisierten lokalen Verwaltungseinheit melden muss (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 21).

61 Aus der Überwachung und Kontrolle der Angehörigen der ruandischen Diaspora im Ausland und bei einer Rückkehr nach Ruanda kann indes nicht geschlossen werden, dass einem Staatsbürger Ruandas, der im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, bei einer Rückkehr nach Ruanda mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen, wenn allein der Umstand der Asylantragstellung im Ausland ruandischen Behörden durch Befragungen bekannt wird bzw. aufgrund der im Ausland erfolgten Überwachung der ruandischen Diaspora bereits bekannt ist. Die Flucht aus Ruanda stellt aus Sicht der Regierung zwar einen Ausdruck der Feindschaft gegenüber Ruandas Politik und Regierungsführung dar (Dr. Bognitz, Gutachten vom 9.2.2022, S. 4) und das Stellen eines Asylantrags wird als immanente Kritik an der Politik und/oder den Organen Ruandas verstanden (Dr. Hankel, Stellungnahme vom 10.8.2013, S. 3). Es lässt sich anhand der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel jedoch nicht feststellen, dass allein der "formale" Aspekt der Beantragung von Asyl im Ausland und die aus Sicht ruandischer Stellen damit verbundene Kritik derart schwer wiegt, dass einem ruandischen Asylbewerber bei einer Rückkehr bereits deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a AsylG drohen.

62 Auch wenn die ruandische Regierung daran interessiert ist, innerhalb der internationalen Gemeinschaft ein positives Bild des "neuen Ruanda", also des nach 1994 von der Ruandischen Patriotischen Front regierten Ruandas, aufrechtzuerhalten und kritische Stimmen - auch vereinzelte Stimmen - zu unterbinden (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 13), und vor diesem Hintergrund es nicht ausgeschlossen ist, dass ruandische Behörden im Einzelfall das Stellen eines Asylantrags im Ausland zum Anlass nehmen können, dies zu sanktionieren, besteht die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit bzw. tatsächliche Gefahr ("real risk") einer im Sinne des § 3a AsylG gravierenden Verfolgung nach Auswertung der zu Ruanda vorliegenden Erkenntnismittel nach Überzeugung des Senats jedoch erst dann, wenn zu dem "formalen" Aspekt einer Asylantragstellung weitere "qualitative" Umstände hinzutreten. Entscheidend sind daher – wie die Sachverständige Dr. Bognitz in der mündlichen Anhörung am 14. März 2022 nachvollziehbar ausgeführt hat – die inhaltliche Ebene und der Hintergrund des Asylgesuchs (Dr. Bognitz, Sachverständigenanhörung vom 14.3.2022, S. 12 ff.). Kritik an dem ruandischen Staat und den dortigen politischen Verhältnissen, die öffentlichkeitswirksam geworden ist, kann daher im Zusammenhang mit einem Asylgesuch zu einer relevanten Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr aus dem Exil führen. [...]

65 Der Senat ist unter Auswertung der vorstehenden Erkenntnismittel daher nicht davon überzeugt, dass allein die illegale Ausreise aus Ruanda und/oder das Stellen eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung wegen einer (unterstellten) politischen Überzeugung führen wird. [...]

101 Grundsätzlich ist es für Frauen in Rwanda nicht sehr leicht, eine Arbeitsmöglichkeit zu finden, um so für sich oder für die Familie Geld zu verdienen. [...]

103 (b.) Nach den zur humanitären und wirtschaftlichen Situation in Ruanda vorliegenden Erkenntnissen ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Ruanda einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Verelendungsgefahr ausgesetzt wäre. Die Klägerin verfügt mit einem abgeschlossenen Studium in den Fächern H. über einen hohen Bildungsgrad. [...]