VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 01.04.2022 - 38 K 467/20 A - asyl.net: M30669
https://www.asyl.net/rsdb/m30669
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für LGBTI+-Personen hinsichtlich Georgiens:

"1. Die Prüfung einer (drohenden) Verletzung von Art. 3 EMRK [Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung] darf sich nicht auf die Ermittlung und quantitative Bezifferung gewalttätiger Übergriffe verengen. Der Schutzbereich des Art. 3 EMRK beschränkt sich nicht auf körperliche Misshandlungen, sondern erstreckt sich auch auf diskriminierende Verhaltens­weisen, die psychische Leiden verursachen. Eine erniedrigende Behandlung im Sinne der Vorschrift kann auch dann vorliegen, wenn sie (ohne die physische Integrität zu berühren) in den betreffenden Personen in entwürdigender Weise Ängste, seelische Qualen oder das Gefühl von Minderwertigkeit auslöst

2. In der Gesamtschau und Abwägung aller Umstände ist davon auszugehen, dass sich die LGBTI+-Gemeinschaft in Georgien insgesamt weiterhin einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sieht. Gewalttätige Übergriffe bilden insoweit nur die schwerwiegendsten Manifestationen einer weit verbreiteten homophoben und transphoben Grundhaltung, die nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln für LGBTI+-Personen in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zu teilweise massiven Problemen führt.

3. Nach Erkenntnislage des Gerichts ist der georgische Staat derzeit nicht willens und in der Lage, LGBTI+-Personen wirksam vor der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch die georgische Gesellschaft oder einzelne Personen zu schützen.

4. Eine interne Fluchtalternative innerhalb Georgiens steht LGBTI+-Personen nicht zur Verfügung. Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist die unmenschliche und erniedrigende Behandlung von LGBTI+-Personen durch die georgische Gesellschaft nicht auf einzelne Landesteile Georgiens beschränkt. Der Umstand, dass sich in Tiflis inzwischen eine aktive LGBTI+-Szene herausgebildet hat, führt ebenfalls nicht dazu, dass sich LGBTI+-Personen dort im alltäglichen Leben nicht mehr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sehen."

(Amtliche Leitsätze; anschließend an: VG Berlin, Urteil vom 19.02.2020 - 38 K 171.19 A - asyl.net: M28266; anderer Ansicht: VG Potsdam, Urteil vom 27.05.2021 - 2 K 3028/18.A - asyl.net: M29863)

Schlagwörter: Georgien, homosexuell, lesbisch, LSBTI+, LGBTIQ, schwul, trans, Diskriminierung, Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

21 Gemessen hieran ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Denn der erkennende Einzelrichter ist davon überzeugt, dass die Klägerin homosexuell ist (a.) und sich deshalb in Georgien jedenfalls durch nichtstaatliche Akteure einer Verfolgung (b.) wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (c.) ausgesetzt sieht. Im Hinblick auf diese Verfolgung ist der georgische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage, den gebotenen Schutz der Klägerin zu gewährleisten (d.). Ebenso wenig besteht für die Klägerin eine interne Fluchtalternative innerhalb Georgiens (e.).

22 a. Der erkennende Einzelrichter ist davon überzeugt, dass die Klägerin homosexuell ist. [...]

26 b. Der Klägerin droht aufgrund ihrer Homosexualität in Georgien Verfolgung. Gemäß § 3a AsylG gelten als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG.

27 Zu den Artikeln, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, gehört insbesondere Art. 3 EMRK, der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet. Zur Bestimmung der Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zurückzugreifen. In dieser ist geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) erreichen müssen, um eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK zu begründen (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10 –, Paposhvili/Belgien –, NVwZ 2017, 1187, Rn. 174). Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – BVerwG 1 B 25/18 –, juris Rn. 9).

28 Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer eine Verfolgung aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht ("real risk", BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – BVerwG 1 C 29/17 –, juris Rn. 14). [...]

29 Gemessen hieran ist die Furcht der Klägerin vor Verfolgung begründet. Nach Einschätzung des Gerichts sieht sich die LGBTI+-Gemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Intersexual u.a., deutsch: Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell/Transgender, Intersexuell u.a.) in Georgien insgesamt einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch die georgische Gesellschaft ausgesetzt (vgl. dazu Kammerurteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 36 ff. sowie Kammerurteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 148.19 A –, juris Rn. 33 ff.). [...]

35 Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die Prüfung einer (drohenden) Verletzung von Art. 3 EMRK nicht auf die Ermittlung und quantitative Bezifferung gewalttätiger Übergriffe verengen darf. Der Schutzbereich des Art. 3 EMRK beschränkt sich nicht auf körperliche Misshandlungen, sondern erstreckt sich auch auf diskriminierende Verhaltensweisen, die psychische Leiden verursachen. Eine erniedrigende Behandlung im Sinne der Vorschrift kann auch dann vorliegen, wenn sie (ohne die physische Integrität zu berühren) in den betreffenden Personen in entwürdigender Weise Ängste, seelische Qualen oder das Gefühl von Minderwertigkeit auslöst (EGMR, Urteil vom 12. Mai 2015 – Nr. 73235/12 –, Identoba u.a./Georgia, Rn. 65).

36 In der Gesamtschau und Abwägung aller Umstände ist davon auszugehen, dass sich die LGBTI+-Gemeinschaft in Georgien insgesamt einer solchen erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sieht. Gewalttätige Übergriffe bilden insoweit nur die schwerwiegendsten Manifestationen einer weit verbreiteten homophoben und transphoben Grundhaltung, die nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln für LGBTI+-Personen in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zu teilweise massiven Problemen führt. Wie die Kammer bereits in ihren Entscheidungen vom 21. November 2019 festgestellt hat, sehen sich LGBTI+-Personen in zentralen Lebensbereichen wie dem Berufs- und Arbeitsleben, dem Bildungsbereich und sogar der medizinischen Versorgung häufig mit erheblicher Diskriminierung und daraus resultierenden Zugangshindernissen konfrontiert (ausführlich hierzu VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 50 ff. m.N.). Auch der Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung ist aufgrund eines verbreiteten Stigmadenkens des medizinischen Personals sowie Unkenntnis und Unwissen über die spezifischen medizinischen Bedürfnisse von LGBTI+-Personen erschwert (VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 51 m.N.). Überdies findet die Abneigung gegenüber LGBTI+-Personen in der Form von "Hate-Speech" verbreitet Ausdruck in der georgischen Gesellschaft (VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 58 m.N.). [...]

39 c. Homosexuelle Menschen wie die Klägerin werden in Georgien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verfolgt. [...]

41 Angesichts der bestehenden Grundhaltung der georgischen Bevölkerung werden sämtliche LGBTI+-Personen in Georgien von der sie umgebenden und sie verfolgenden Gesellschaft als andersartig betrachtet, so dass ihre Gruppe eine abgegrenzte Identität i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 lit. b AsylG besitzt (dazu das o.g. Kammerurteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 62). [...]

42 d. Nach Erkenntnislage des Gerichts ist der georgische Staat derzeit nicht willens und in der Lage, LGBTI+-Personen wirksam vor der geschilderten unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch die georgische Gesellschaft oder einzelne Personen zu schützen. [...]

44 Es ist aber davon auszugehen, dass die Stigmatisierungen und Diskriminierungen der LGBTI+-Personen durch die georgische Öffentlichkeit ein solches Maß erreicht haben und eine Aufklärung und Verfolgung dieser Taten nur in einem derart geringen Umfang stattfinden, dass nicht nur einzelne Übergriffe und vereinzelte Schutzlücken festzustellen sind, sondern ein systemisches Schutzproblem besteht. [...]

50 e. Schließlich besteht für die Klägerin auch keine interne Fluchtalternative. [...] Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist die geschilderte unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch die georgische Gesellschaft jedoch nicht auf einzelne Landesteile Georgiens beschränkt. Auch fehlt es im gesamten Staatsgebiet an der gebotenen Schutzbereitschaft des Staates (dazu ausführlich Kammerurteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 170.19 A –, juris Rn. 81; siehe auch Kammerurteil vom 21. November 2019 – VG 38 K 148.19 A –, juris Rn. 72; zudem VG Berlin, Urteil vom 9. April 2021 – VG 38 K 141/20 A –, juris Rn. 51 f.). [...]