Kein Schutz für HIV-positiven homosexuellen Mann aus Georgien:
1. Homosexuellen Personen in Georgien drohen Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure nicht in einer flüchtlingsrelevanten Intensität.
2. Der georgische Staat ist willens und in der Lage, homosexuellen Personen Schutz vor Verfolgung zu bieten.
3. Jedenfalls in der Hauptstadt Tiflis steht von Verfolgung bedrohten homosexuellen Personen interner Schutz zur Verfügung.
4. Für HIV-positive Personen besteht größtenteils kostenfreier Zugang zu medizinischer Versorgung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1. Für die Anerkennung als Flüchtling fehlt es bereits an genügenden Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG durch nichtstaatliche Akteure. [...]
Die Voraussetzung einer Verfolgung ist im Hinblick auf Homosexuelle in Georgien gemessen an diesen Maßstäben nicht erfüllt. Denn den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln lässt sich zwar eine – mitunter weit verbreitete und intensive – gesellschaftliche Ablehnung gegenüber homosexuellen Menschen in Georgien entnehmen; vgl. ausführlich VG Berlin, Urteil vom 21. November 2019 - 38 K 170.19 A -, juris Rn. 38 ff.
Gleichwohl erreicht diese gesellschaftliche Ablehnung nicht das für eine Verfolgung im tatbestandlichen Sinne notwendige Maß. So ist zwar einerseits nach dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien (Stand: November 2020) festzuhalten, dass die Situation von sexuellen Minderheiten weiterhin sehr schwierig ist und im gesellschaftlichen und beruflichen Leben entsprechende Personen mit ungleicher Behandlung und Anfeindungen rechnen müssen. Die öffentliche Meinung ist stark geprägt von den konservativen Werten der gesellschaftlich tief verankerten orthodoxen Kirche. Zudem gab es Angriffe am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie (IDAHOT) im Jahr 2012; 2013 griffen gewaltbereite Gegendemonstrationen unter Anführerschaft von georgisch-orthodoxen Priestern eine Demonstration sexueller Minderheiten an. Veranstaltungen im 2019 konnten nur vereinzelt stattfinden (S. 12).
Gleichwohl ist dem Bericht auch zu entnehmen, dass Gewaltanwendungen lediglich vereinzelt stattfinden. Die öffentliche Meinung hinsichtlich sexueller Minderheiten ist stark polarisiert (S. 12), sodass nicht von einer einheitlichen Ablehnung gegenüber Homosexuellen auszugehen ist, sondern vielmehr eine gesellschaftliche Spaltung mit einer nicht nur unerheblichen Anzahl von Menschen, die gegenüber Lebensformen jenseits heterosexueller Beziehungen ablehnend gegenüberstehen, existiert. Dieser Spaltung (und nicht einhelligen Ablehnung) entspricht auch die im Artikel "Ausdruck äußerster Verzweiflung" aus der Tageszeitung taz vom 1. Mai 2020 zitierte Umfrage eines Tifliser Instituts, nach der "fast die Hälfte der Befragten der Meinung (sei), dass die Rechte von LGBT-Menschen keines besonderen Schutzes" bedürften, wobei diese Ansicht bei jüngeren Menschen weniger Unterstützer findet. [...]
Folgt demnach aus den Erkenntnismitteln, dass Homosexuelle in Georgien einer – durchaus verbreiteten – gesellschaftlichen Ablehnung begegnen, aktive (und vereinzelt auch gewalttätige) Maßnahmen gegenüber Homosexuellen aber vorrangig aus Anlass bestimmter öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen entstehen, genügt dies nicht für eine Verfolgung. Die angeführten Vorkommnisse bleiben nämlich punktuell auf Situationen beschränkt, in denen Homosexuelle erkennbar als solche auftreten. So gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass entsprechende Personen oder Institutionen flächendeckend und systematisch gezielt Homosexuelle verfolgen. Die Nachweise belegen nicht in der erforderlichen Dichte eine tatsächliche Verfolgung Homosexueller im ganzen Land, die den Schluss auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung zulassen würde. Stellt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bereits der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung dar, sind an Handlungen nichtstaatlicher Akteure Anforderungen zu stellen, die durch eine verbreitete – aber keinesfalls einhellige – Ablehnung gegenüber entsprechender Lebensformen nicht erfüllt sind. Andernfalls führte die in der Gesellschaft breit geäußerte Ablehnung homosexueller Lebensformen zur Annahme von Verfolgungshandlungen.
2. Schließlich sind staatliche Stellen in Georgien grundsätzlich in der Lage und willens, Homosexuellen Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. [...]
Staatlicher Schutz wird in Georgien ausweislich der dargestellten Erkenntnismittel bereits durch die gesetzgebende Gewalt gewährt. So steht Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität seit 2012 unter Strafe, wodurch bereits zum Ausdruck kommt, dass der georgische Staat willens ist, gegen Diskriminierung sexueller Minderheiten vorzugehen.
Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten werden nach dem Bericht des Auswärtigen Amts (S. 5) vom georgischen Staat weitgehend geachtet und gestärkt. Die Lage der Menschenrechte haben sich weiter den internationalen Standards angenähert und in vielen Bereichen einen guten Stand erreicht. Flankiert werden diese Maßnahmen durch die Einsetzung einer Ombudsfrau, die sich der Stärkung der Menschenrechte und den Rechten von Minderheiten widmet und mit einem Stab von 162 Mitarbeitern (S. 7) sehr aktiv ist und problematische Vorfälle aufklärt.
Der Umstand allein, dass die staatlichen Organe trotz prinzipieller Schutzbereitschaft nicht immer in der Lage sind, die Betroffenen vor Übergriffen wirkungsvoll zu schützen, reicht für die Annahme des Gegenteils ebenfalls nicht aus. Kein Staat – auch der deutsche Staat (vgl. etwa Tagesspiegel vom 15. Mai 2020: "So viele Übergriffe auf Homo- und Transsexuelle wie noch nie" (abrufbar unter www.tagesspiegel.de/berlin/gewalt-in-berlin-so-viele-uebergriffe-auf-homo-und-transsexuelle-wie-noch-nie/25834512.html; zuletzt abgerufen am 23. Mai 2021)) vermag einen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen einschließlich sog. Amtswalterexzesse bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des inneren Friedens nicht vorkommen. Deshalb lässt weder eine Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung noch eine im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon die staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit im Normsinne des § 3c Nr. 3 AsylG entfallen. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates – wie hier im Falle Georgiens – zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-)Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind; VG Trier, Urteil vom 22. Juni 2018 - 1 K 1063/18.TR -, juris Rn. 67 m.w.N. [...]
3. Schließlich ist der Kläger auch darauf zu verweisen, in einem Teil Georgiens zu leben und Schutz zu suchen, in dem die Akzeptanz gegenüber Homosexuellen größer ist (§ 3e AsylG). Eine landesweit drohende Verfolgung durch seine Familienangehörigen ist ebenso wenig ersichtlich wie Umstände, die ein Niederlassen in einem anderen Teil des Heimatlandes als unzumutbar erscheinen lassen. Das Auswärtige Amt führt in seinem Bericht (S. 13) aus, dass Intoleranz und ggf. Diskriminierung von Minderheiten und Andersdenkenden in der Gesellschaft verbreitet, aber nicht immer und überall anzutreffen seien. In den urbanen Zentren, insbesondere der Hauptstadt Tiflis, seien moderne, liberal geprägte Weltbilder und tolerante Verhaltensmuster stärker vorhanden als in den ländlichen und gebirgigen Landesteilen. Rechtliche Hindernisse gegen ein Umziehen zwecks Ausweichen etwaiger unmittelbar erfahrener Diskriminierung bestünden nicht. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen des taz-Artikels vom 24. November 2019, dass in Tiflis durchaus eine Szene für sexuelle Minderheiten vorhanden ist.
Es ist dem Kläger demnach zumutbar, nach seiner Rückkehr in eine der größeren Städte zu ziehen, insbesondere nach Tiflis, wo er unmittelbar vor seiner Ausreise offenbar bereits eine Zeit lang gelebt hat. Dass er dort von seiner Familie gefunden würde, ist angesichts der Größe Georgiens und der Hauptstadt nicht sonderlich wahrscheinlich. Im Übrigen ist es ihm auch zuzumuten, sich – anders als in der Vergangenheit – gegen mögliche Bedrohungen an die zuständigen Polizeistellen zu wenden und um Schutz nachzusuchen. [...]
a. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben in Georgien besteht nicht durch die HIV-Infektion des Klägers; vgl. auch SächsOVG, Urteil vom 20. November 2020 - 2 A 494/20.A -, juris Rn. 26 f.; VG Oldenburg, Beschluss vom 1. Juli 2020 - 7 B 1685/20 -, juris Rn. 28 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 26. April 2016 - A 11 K 1750/16 -, juris S. 8; VG Würzburg, Urteil vom 5. Oktober 2015 - W 7 K 15.30563 -, juris S. 5 f.
Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien (Stand November 2020, S. 16 f.) ist die medizinische Versorgung für alle georgischen Staatsangehörigen durch eine staatlich finanzierte Grundversorgung (Universal Health Care) sowie zusätzlich bestehende staatliche Gesundheitsprogramme für bestimmte Krankheitsbilder je nach sozialer Lage nämlich kostenlos oder mit Zuzahlungen gewährleistet. Mit einer privaten Krankenversicherung kann die Leistungsübernahme medizinischer Behandlungen beitragsabhängig erweitert werden. Medizinische Einrichtungen gibt es landesweit, jedoch mit stark voneinander abweichender Qualität. In der Hauptstadt Tiflis und weiteren städtischen Zentren (Kutaissi, Batumi) bieten private Einrichtungen umfassende und weitgehend moderne Behandlungen an; staatliche Einrichtungen, wie sie primär in den ländlichen Regionen anzutreffen sind, haben deutlichen Rückstand an technischer und personeller Ausstattung. Für manche überlebensnotwendigen Eingriffe und Maßnahmen ist daher allein eine Behandlung in Tiflis möglich. Medikamente werden weitgehend importiert, zumeist aus der Türkei und Russland, aber auch aus EU-Ländern. Viele der in Deutschland erhältlichen Medikamente, gegebenenfalls als Generika, sind daher auch in Georgien verfügbar.
Diese Informationen werden bestätigt und konkretisiert durch den Bericht der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 21. März 2018, Focus Georgien, Reform im Gesundheitswesen: Staatliche Gesundheitsprogramme und Krankenversicherung, welchem zu entnehmen ist (S. 14 ff.), dass im Rahmen der nationalen HIV/Aids Strategie in Georgien alle Infizierten seit 2004 kostenlos antiretrovirale Medikamente erhalten. Finanziert werden sie durch den georgischen Staat und dem Global Fund to Fight HIV/AIDS, Tuberculosis, and Malaria. Demnach haben alle HIV-infizierten georgischen Bürger Zugang zum Programm. Im Unterschied zur Mehrheit der Länder in der Region Osteuropa und Zentralasien kennt Georgien – den aktuellsten WHO-Empfehlungen folgend – keinen Schwellenwert der CD4-Zellzahl, der erreicht werden muss, damit jemand antiretrovirale Medikamente erhält. Infizierte haben in jedem Stadium Zugang zum Programm. Zu den kostenlosen ambulanten Dienstleistungen gehören Arzttermine in der Praxis und die Behandlung von opportunistischen Infektionen. Als kostenlose stationäre Dienstleistung steht u.a. die Behandlung von HIV-Infektionen sowie Begleiterscheinungen von AIDS kostenlos zur Verfügung. Das National AIDS Centre in Tiflis erstellt die Diagnose und regelt die Aufnahme in das staatliche Programm. Die antiretrovirale Therapie erfolgt in Kliniken sowie mittels mobilen Teams bei den Patienten zu Hause. Das Zentrum verfügt auch über eine von zivilgesellschaftlichen Organisationen geführte Beratungsstelle. Von den Personen, die für eine entsprechende Therapie in Frage kommen, erhalten 91 % eine antiretrovirale Therapie. Der Zugang dazu war seit 2004 ohne Unterbrechung gewährleistet. Die WHO kritisiert, dass Empfänger von antiretroviralen Therapien die Kliniken relativ häufig aufsuchen müssen, um Viruslast und CD4-Zahl zu messen, nämlich meistens alle zwei bis drei Monate. Das National AIDS Centre in Tiflis ist laut WHO für die notwendigen Messungen sowie für die Diagnose von opportunistischen Infektionen gut aufgestellt, was Personal und Equipment anbelangt. Dem Centre attestiert die WHO generell eine hohe Qualität bei der Behandlung von HIV/AIDS Patienten. Die gesellschaftliche Stigmatisierung von HIV/AIDS kann sich negativ auf den Zugang zu staatlichen Programmen auswirken, da die Krankheit primär mit Drogenabhängigkeit oder mit der LGBTI-Gemeinschaft in Verbindung gebracht wird. Staatliche und nichtstaatliche Organisationen haben sich zum Ziel gesetzt, dieser Stigmatisierung durch Informations- und Aufklärungsarbeit zum Thema HIV und AIDS entgegenzuwirken.
Bestätigt werden diese Informationen durch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Georgien des BFA (Stand: 2. Dezember 2020; S. 43 ff., 48). Auch dieses stellt dar, dass Infizierte in jedem Stadium der Infektion, unabhängig von der CD4-Zellzahl, Zugang zum Universal Health Care Programm haben. Die Leistungen des Programms werden demnach vollständig finanziert und bedürfen keiner Zuzahlung seitens der Patienten. [...]