Flüchtlingsanerkennung für minderjährig ausgereisten Syrer wegen drohender Bestrafung für Werdienstentziehung:
"1. Eine Militärdienstverweigerung [bei völkerrechtswidrigem Militäreinsatz] i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG liegt bei einem im minderjährigen Alter ausgereisten Syrer vor, wenn dieser nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters in der Bundesrepublik Deutschland verbleibt, sich nicht bei den syrischen Behörden als Wehrpflichtiger meldet und keine Befreiung vom Wehrdienst erwirkt, weil er den Militärdienst nicht ableisten möchte.
2. Die Ableistung des Militärdienstes durch einen einfachen syrischen Wehrpflichtigen, der seine Einheit, Funktion und seinen Einsatzort im Rahmen des Militärdienstes noch nicht kennt, würde in einem Konflikt stattfinden und sehr wahrscheinlich Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.
3. Es besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bestrafung einfacher syrischer Wehrdienstentzieher in Form einer - kurzzeitigen - Inhaftierung vor ihrer Einberufung.
4. Die zu erwartende Bestrafung wegen der Militärdienstverweigerung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG knüpft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an eine dem syrischen Wehrdienstentzieher unterstellte politisch oppositionelle Haltung an."
(Amtliche Leitsätze; abweichend von bisheriger Rechtsprechung: OVG Bremen, Urteil vom 29.01.2019 - 2 LB 127/18 - asyl.net: M27222)
[...]
3. Dem Kläger droht aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr nach Syrien eine Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes nach § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5 AsylG durch die syrischen Sicherheitsbehörden, die an eine ihm unterstellte oppositionelle Haltung anknüpft.
a) Der Kläger hat im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zu erwarten.
aa) Die aktuelle Erkenntnislage im Hinblick auf die Wehrdienstentziehung syrischer Staatsangehöriger stellt sich im Wesentlichen folgendermaßen dar:
In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht für männliche syrische Staatsbürger im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 29.11.2021 (im Folgenden: AA, Lagebericht vom 29.11.2021), S. 14 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien vom 24.01.2022 (im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt vom 24.01.2022), S. 63), einschließlich solcher, die während eines Auslandsaufenthalts das wehrpflichtige Alter erreichen (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung von März 2021 (im Folgenden: UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf, März 2021), S. 124). Letztere sind verpflichtet, entweder nach Syrien zurückzukehren, um den Wehrdienst abzuleisten, oder einen Aufschub oder eine Befreiung zu beantragen (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf, März 2021, S. 124). [...]
bb) Der Kläger hat danach seinen Militärdienst verweigert.
Er ist seit Erreichen seines 18. Lebensjahres im ... 2020 wehrpflichtig. Zwar liegt keine Militärdienstverweigerung des Klägers durch Flucht ins Ausland vor. Er war zu dem Zeitpunkt seiner Ausreise weder wehrpflichtig, noch stand das Erreichen des wehrpflichtigen Alters und die Einberufung unmittelbar bevor. Er hat den Militärdienst jedoch dadurch verweigert, dass er nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters in der Bundesrepublik Deutschland verblieben ist, ohne sich beim syrischen Staat als Wehrpflichtiger zu melden und zur Verfügung zu stellen oder eine Befreiung oder einen Aufschub vom Wehrdienst zu erlangen, und sich damit dem Wehrdienst entzogen hat (ebenso: SächsOVG, Urt. v. 21.01.2022 - 5 A 1402/18.A, Rn. 50; OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 28.05.2021 - 3 B 90.18, Rn. 23, beide juris). An der Rechtsprechung des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts, wonach bei einem minderjährig und deshalb nicht wehrpflichtig ausgereisten Syrer keine Wehrdienstentziehung vorliege (OVG Bremen, 29.01.2019 - 2 LB 127/18, juris Rn. 64), wird nicht festgehalten.
Eine Militärdienstverweigerung setzt nicht voraus, dass der Kläger ein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt oder seine Verweigerung in anderer Weise formalisiert hat, wenn ein solches Verfahren – wie vorliegend – nicht zur Verfügung steht. In einem solchen Fall kann zudem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Militärdienstverweigerung nach dem syrischen Recht rechtswidrig ist und unter Strafe steht, vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sie vor der Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht hat (EuGH, Urt v. 19.11.2020 - C-238/19, juris Rn. 30). Ob der Kläger den Militärdienst tatsächlich verweigert hat, muss jedoch unter Berücksichtigung aller mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, den maßgeblichen Angaben des Klägers und der von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Umstände nachgewiesen werden (EuGH, Urt v. 19.11.2020 - C-238/19, juris Rn. 31).
Den dargestellten Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass der Kläger verpflichtet gewesen ist, sich bei Erreichen des 18. Lebensjahres selbstständig beim zuständigen Rekrutierungsbüro zu melden. Unterbleibt dies, erfolgt eine Vorladung, wobei diese dem Wehrpflichtigen nicht zwingend selbst zugegangen sein muss, sondern bei Untertauchen oder Auslandsaufenthalt auch Familienangehörige benachrichtigt werden können. Meldet sich der Wehrpflichtige weiterhin nicht, wird er auf eine Liste der Wehrdienstentzieher gesetzt. Dass der vorherige Zugang eines Einberufungsbescheids erforderlich ist, ergibt sich aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln hingegen nicht (so aber OVG Hamburg, Urt. v. 11.01.2018 - 1 Bf 81.17.A, juris Rn. 102). Vielmehr lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass der syrische Staat in den Fällen, in denen sich Wehrpflichtige nicht selbstständig beim Rekrutierungsbüro melden, eine solche Meldung durch Vorladung oder Benachrichtigung der Familie versucht zu erreichen, und auch Strafvorschriften vorsieht für den Fall, dass jemand das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich damit der Einberufung entzieht (vgl. SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, 18.01.2018, S. 1 ff.; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, Auskunft vom 23.03.2017, S. 8, 11). Dies verdeutlicht, dass der syrische Staat einen Überblick darüber hat, welche Staatsbürger das wehrpflichtige Alter erreichen und auch Personen, deren Kontaktierung zwecks Einberufung scheitert, weil sie das Land ohne Adresse zu hinterlassen verlassen haben, als Wehrdienstentzieher ansieht. Da der Kläger mittlerweile das 20. Lebensjahr vollendet hat, ohne sich zum Wehrdienst zu melden, ist davon auszugehen, dass er vom syrischen Staat als Wehrdienstentzieher angesehen wird und auf eine entsprechende Liste gesetzt wurde.
Der Kläger begründet seinen Asylantrag zudem damit, keinen Wehrdienst in Syrien ableisten zu wollen. Sein Verbleib im Bundesgebiet und seine fehlende Meldung bei den syrischen Behörden als Wehrpflichtiger beruhen mithin auf dem Unwillen des Klägers, den Militärdienst zu leisten.
cc) Der Militärdienst des Klägers würde in einem Konflikt stattfinden und sehr wahrscheinlich Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (zuletzt ebenso: OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 28.05.2021 - 3 B 90.18, Rn. 31; a.A.: SächsOVG, Urt. v. 21.01.2022 - 5 A 1402/18.A, Rn. 43; NdsOVG, Urt. v. 22.04.2021 - 2 LB 147/18, Rn. 78 ff.; offen gelassen: HessVGH, Urt. v. 13.09.2021 - 8 A 1992/18.A, S. 14; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.08.2021 - A 3 S 271/19, Rn. 47; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18, Rn. 115; OVG NRW, Urt. v. 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A, Rn. 106, allesamt juris). [...]
Auch in Anbetracht der gegenüber dem Jahr 2017 veränderten militärischen Gesamtsituation in Syrien ist es weiterhin plausibel, dass sich der Kläger als einfacher Wehrpflichtiger an Kriegsverbrechen im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG im Rahmen der Bürgerkriegsauseinandersetzungen beteiligen wird. Der Bürgerkrieg in Syrien ist durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen im Sinne der Ausschlussklausel durch die syrische Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet. Insbesondere im Laufe des Jahres 2017 haben das syrische Regime und seine Unterstützer zwar weitreichende militärische Erfolge und Geländegewinne verzeichnen können. Der aus diesen Gründen seit einigen Jahren zu beobachtende Rückgang an Kampfhandlungen in Syrien setzt sich insgesamt betrachtet fort, steht jedoch in deutlichem Kontrast zur Lage in einzelnen Regionen, welche weiterhin von Kampfhandlungen betroffen sind. Im Raum Idlib im Nordwesten des Landes setzen sich die Kampfhandlungen, insbesondere russische Luftangriffe und Artilleriebeschuss der syrischen Regimetruppen meist auf hohem Niveau fort. Im südwestsyrischem Gouvernement Daraa kam es im Juli und August 2021 zu den schwersten Gefechten zwischen Regierungstruppen und Iran-nahen Milizen einerseits sowie lokalen bewaffneten Gruppierungen andererseits seit Rückeroberung der Region durch das Regime im Jahr 2018 (AA, Lagebericht vom 29.11.2021, S. 6). Ziele der Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten sind nach Auskunft des Auswärtigen Amtes seit jeher vor allem Kräfte der Opposition und weite Teile der Zivilbevölkerung. Neben Stellungen der bewaffneten Opposition seien auch im letzten Berichtszeitraum des Auswärtigen Amtes wiederholt Wohngebiete sowie zivile Infrastruktur angegriffen worden – teilweise mit Präzisionsraketen und zielgenauen Waffensystemen von Kampfflugzeugen. Diese gezielten Angriffe auf zivile Infrastruktur hätten sich wiederholt auch gegen medizinische Einrichtungen gerichtet. Trotz des bestehenden Rückgangs der Anzahl an Kampfhandlungen in Folge der Rückeroberungen weiter Landesteile ist nach Ansicht des Auswärtigen Amtes nicht von einer nachhaltigen Befriedung des Landes auszugehen. Hinzu komme, dass die erklärte Absicht des Regimes zur militärischen Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes und Vernichtung „terroristischer“ Kräfte weiterhin fortbestehe. Das Regime könne weiterhin Luftangriffe im gesamten Land fliegen, außer in Gebieten unter türkischer und kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze (AA, Lagebericht vom 29.11.2021, S. 8). [...]
Damit ist zwar zu erkennen, dass sich die Situation im Vergleich zur derjenigen, die der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.11.2020 zugrunde lag, deutlich verändert hat. Die syrische Regierung hat weite Teile des Staatsgebiets zurückerobert. Vom Einsatz chemischer Waffen wurde zuletzt im Februar 2018 im Gebiet Saraqib (nähe Idlib) berichtet (CoI-Bericht vom 13.08.2021, S. 4). Der syrische Bürgerkrieg ist jedoch weder beendet, noch kann die derzeitige Sachlage, bei der insbesondere aufgrund der Involvierung der Türkei im Nordwesten weitere Geländegewinne der syrischen Regierung zunächst nicht zu erwarten sind, als derart stabil angesehen werden, dass nur noch von sehr vereinzelten Kampfhandlungen, die nicht mit der Begehung von Kriegsverbrechen in Zusammenhang stehen, ausgegangen werden kann. Zum einen scheint die Lage in vom syrischen Regime eroberten Gebieten volatil zu sein, und zum anderen finden nach den Berichten weiterhin intensive Kampfhandlungen im Nordwesten Syriens statt, auch wenn ein bestimmter Bereich durch die mit der Türkei vereinbarten Waffenruhe derzeit geschützt wird. Es gibt nach den Berichten der CoI auch weiterhin Kampfhandlungen, die Zivilisten betreffen und Grund für die Annahme bieten, dass Kriegsverbrechen begangen werden. Eine Abkehr des syrischen Regimes von seiner bisherigen Taktik, den Bürgerkrieg unter Begehung von Verbrechen oder Handlungen i. S. d. § 3 Abs. 2 AsylG zu führen (vgl. hierzu AA, Lagebericht vom 04.12.2020, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt vom 18.12.2020, S. 57; EASO, Syria – Security Situation, Juli 2021, S. 45), ist damit nicht erkennbar. Eine Aufklärung und Ahndung von Kriegsverbrechen durch den syrischen Staat finden nicht statt.
Die syrische Armee begeht die Verbrechen oder Handlungen i. S. d. § 3 Abs. 2 AsylG zudem weiterhin unter Einsatz von Wehrpflichtigen. Hierfür sprechen der hohe Personalbedarf der Armee – auch im Hinblick auf die Kämpfe an der Front in Idlib (DIS, Syria – Military Service, Mai 2020, S. 9) – und die weiterhin erfolgenden Zwangsrekrutierungen, von denen berichtet wird (AA, Lagebericht vom 29.11.2021, S. 15); als auch mehrere Berichte darüber, dass Wehrpflichtige nach ihrer Einberufung – zum Teil unmittelbar – an die Front geschickt werden (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf, März 2021, S. 127; DIS, Syria – Military Service, Mai 2020, S. 13). Das Risiko einer Versetzung an die Front trifft nach Auskunft mehrerer Quellen jeden – auch unerfahrene Soldaten und Wehrpflichtige – in der syrischen Armee (DIS, Syria – Military Service, Mai 2020, S. 13). Zudem wird berichtet, dass das syrische Regime die Einheiten rotieren lasse, sodass nicht sichergestellt sei, dass ein Militärangehöriger, der derzeit nicht in aktive Kämpfe involviert sei, seinen Dienst weiterhin fernab der Front leisten könne (DIS, Syria – Military Service, Mai 2020, S. 14). Der Plausibilität der Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne der Ausschlussklausel durch den Kläger steht damit nicht entgegen, dass derzeit weder feststeht noch abzusehen ist, welcher Einheit, Funktion und welchem Einsatzort er bei einer Einberufung zugewiesen würde (anders noch OVG Bremen, Urt. v. 29.01.2019 - 2 LB 127/18, juris Rn. 66). [...]
Auch wenn sich das Risiko für jeden einzelnen Wehrpflichtigen, an Verbrechen im Sinne der Ausschlussklausel beteiligt zu werden, durch die veränderte militärische Lage reduziert hat, erscheint dem Senat die Wahrscheinlichkeit für den Kläger, an solchen Verbrechen oder Handlungen beteiligt zu werden, derzeit weiterhin hoch. Trotz der Reduzierung der Fronten im syrischen Bürgerkrieg finden insbesondere im Nordwesten des Landes weiterhin Kriegshandlungen statt, für die das syrische Regime Wehrpflichtige einsetzt, und hinsichtlich derer ernsthafte Anhaltspunkte dafürsprechen, dass sie – wie in der Vergangenheit – mit Kriegsverbrechen einhergehen. Dementsprechend hat der Konflikt in Syrien weiterhin den Charakter eines allgemeinen Bürgerkrieges, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne der Ausschlussklausel durch die syrische Armee gekennzeichnet ist.
dd) Die Wehrdienstentziehung durch Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland und Nichtmeldung als Wehrpflichtiger bei den syrischen Behörden stellt für den Kläger das einzige Mittel dar, das es ihm erlaubt, der Beteiligung an Verbrechen oder Handlungen im Sinne der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG zu entgehen (zu dieser Voraussetzung: EuGH, Urt. v. 25.02.2015 - C-472/13, juris Rn. 44).
Das syrische Recht sieht keine legale Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung oder die Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes vor. Wenn – wie im Fall des Klägers – keine Ausnahme vom Wehrdienst für bestimmte Fallgruppen einschlägig ist, kommt lediglich eine Befreiung durch Zahlung eines Wehrersatzgeldes in Betracht. [...] Unabhängig davon, ob die Freikaufregelungen vom syrischen Staat beachtet werden, war der Kläger weder bei Erreichen des wehrpflichtigen Alters in der Lage noch ist er es derzeit, die finanziellen Mittel für das Wehrersatzgeld aufzubringen. [...]
ee) Der Kläger hat als Wehrdienstentzieher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung oder Bestrafung wegen seiner Militärdienstverweigerung zu befürchten (zuletzt ebenso: OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 28.05.2021 - 3 B 90.18, Rn. 25 ff; a.A.: HessVGH, Urt. v. 13.09.2021 - 8 A 1992/18.A, S. 15; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.08.2021 - A 3 S 271/19, Rn. 48; Urt. v. 04.05.2021 - A 4 S 468/21, Rn. 31 ff.; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18, Rn. 73 ff.; OVG Meckl.-Vorp., Urt. v. 26.05.2021 - 4 L 238/13, Rn. 27 ff.; OVG NRW, Urt. v. 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A, Rn. 48 ff.; OVG Schl.-Holst., Urt. v. 26.09.2019 - 5 LB 38/19, Rn. 80 ff.; 86; offen gelassen: NdsOVG, Urt. v. 22.04.2021 - 2 LB 147/18, Rn. 58, 76; SächsOVG, Urt. v. 22.09.2021 - 5 A 855/19.A, Rn. 81, allesamt juris). [...]
Es sprechen überwiegende Gründe für die Annahme, dass der Kläger als einfacher Wehrdienstentzieher bei seiner Rückkehr jedenfalls festgenommen und zur Bestrafung für einige Tage inhaftiert werden würde, bevor er einberufen und militärisch verwendet würde [...]
Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Inhaftierung des Klägers bei seiner (hypothetischen) Rückkehr erreicht auch die gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erforderliche Intensität einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte. Mit der Inhaftierung wird in das Recht auf physische Freiheit der Person und damit einem grundlegenden Menschenrecht gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK eingegriffen. Wird ein Eingriff in dieses Recht zudem von Art. 3 EMRK, dem Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung erfasst, ist in jedem Fall von einer beachtlichen Verfolgungshandlung auszugehen, andernfalls muss die Verletzung dieses Rechts schwerwiegend sein (BVerwG, Urt. v. 05.03.2009 - 10 C 51/07, juris Rn. 11). Die zu erwartende Inhaftierung des Klägers wird mit beachtlicher Wahrscheinlich nicht nur in sein Recht auf physische Freiheit eingreifen, sondern aufgrund der zu erwartenden Haftbedingungen und körperlichen Misshandlungen auch eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK darstellen. Misshandlungen, die einen solchen Schweregrad erreichen, beinhalten für gewöhnlich tatsächliche körperliche Verletzungen oder intensives körperliches oder psychisches Leiden. Auch wo diese Voraussetzungen nicht vorliegen, kann jedoch eine Behandlung unter Art. 3 EMRK fallen, wenn die Behandlung eine Person erniedrigt, ihre Menschenwürde missachtet oder herabsetzt oder Gefühle der Angst oder Minderwertigkeit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen und körperlichen Widerstand einer Person zu brechen (EMGR (Große Kammer), Urt. v. 20.10.2016 - 7334/13, BeckRS 2016, 121215, Rn. 99). [...]
Es sprechen auch überwiegende Gründe dafür, dass die Inhaftierung und die damit verbundenen Misshandlungen und erniedrigenden Behandlungen jedenfalls auch zur Bestrafung der Wehrdienstentzieher erfolgen und nicht nur – wie es in der obergerichtlichen Rechtsprechung mehrheitlich vertreten wird (SächsOVG, Urt. v. 21.01.2022 - 5 A 1402/18.A, Rn. 48; BayVGH, Urt. v. 08.12.2021 - 21 B 19.33948, Rn. 41; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18, Rn. 88; OVG Meckl.-Vorp., Urt. v. 26.05.2021 - 4 L 238/13, Rn. 33; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.05.2021 - A 4 S 468/21, Rn. 33; OVG NRW, Urt. v. 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A, Rn. 82, allesamt juris) zur Sicherung der Einziehung durch Verhinderung erneuten Untertauchens erfolgt. Diese Einschätzung wird – soweit sie überhaupt begründet wird – auf die kurze Dauer der Inhaftierung und auf die Annahme gestützt, dass in vielen Fällen bei Festnahme des Wehrpflichtigen noch nicht geklärt sei, welcher militärischen Einheit er zugeführt werden soll. Diese Annahme lässt jedoch unberücksichtigt, dass die – auch kurzzeitige Inhaftierung – in den Erkenntnismitteln zum Teil ausdrücklich als Form der Bestrafung für die Wehrdienstentziehung genannt wird (DIS, Syria – Militäry Service, Mai 2020, S. 87, 90). Zudem ist zu beachten, dass das Auswärtige Amt auch gegenwärtig davon ausgeht, dass der syrische Staat bei Verhaftungen von Wehrdienstentziehern von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung Gebrauch macht (AA, Lagebericht vom 29.11.2021, S. 19). Die Annahme steht auch nicht in Widerspruch dazu, dass der syrische Staat in der Regel wohl auf ein förmliches Strafverfahren verzichtet. Denn durch die kurzfristige nichtförmliche Bestrafung durch eine Inhaftierung mit den damit zu erwartenden unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen und körperlichen Misshandlungen kann dem Personalbedarf in der Armee durch rasche Einziehung von Wehrdienstentziehern entsprochen und zugleich bestrafend auf den Wehrdienstentzieher eingewirkt werden.
b. Die mit beachtlicher Wahrscheinlich zu erwartende Bestrafung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist schließlich mit einem Verfolgungsgrund verknüpft (zuletzt ebenso: OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 28.05.2021 - 3 B 90.18, Rn. 32; a.A. BayVGH, Urt. v. 08.12.2021 - 21 B 19.33948, Rn. 27; HessVGH, Urt. v. 13.09.2021 - 8 A 1992/18.A, S. 19; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.08.2021 - A 3 S 271/19, Rn. 48; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 01.07.2021 - 3 L 154/18, Rn. 96 ff.; NdsOVG, Urt. v. 22.04.2021 - 2 LB 147/18, Rn. 58 ff., Rn. 83 ff.; OVG NRW, Urt. v. 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A, Rn. 104 f., 111; OVG Schl.-Holst., Urt. v. 26.09.2019 - 5 LB 38/19, Rn. 83, 88; offen gelassen: SächsOVG, Urt. v. 22.09.2021 - 5 A 855/19.A, Rn. 76 ff., allesamt juris). [...]
Nach diesen Maßstäben besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der syrische Staat die Militärdienstverweigerung des Klägers als einen Akt politischer Opposition auslegt und diesem eine politische Überzeugung gemäß § 3b Abs. 2 AsylG zuschreibt. Unter dem Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. [...]
Die starke Vermutung, dass die Wehrdienstentziehung von den syrischen Sicherheitskräften als ein Ausdruck mangelnder politischer Loyalität bis zu einer möglichen oppositionellen Haltung angesehen wird, gilt auch in Anbetracht der derzeitigen Situationen in Syrien fort. Der Bürgerkrieg in Syrien dauert weiterhin an und es gibt keine legale Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Es erscheint plausibel, dass der syrische Staat eine Wehrdienstentziehung jedenfalls als Illoyalität gegenüber seinem Regime auslegt. Denn Wehrdienstentzieher haben sich dem Erhalt oder jedenfalls der Stabilisierung des Regimes in Anbetracht aufständischer Kräfte und einem noch immer herrschenden Bürgerkrieg nicht zur Verfügung gestellt und damit nicht zugunsten des syrischen Regimes Stellung bezogen. Nach Auskunft des UNHCR wendet das syrische Regime bei der Einstufung, was als abweichende politische Meinung betrachtet wird, sehr weite Kriterien an. Hierzu zählten jede Art oder Form von Kritik, Widerstand oder unzureichender Loyalität gegenüber der Regierung, was regelmäßig zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffende Person führe (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf, März 2021, S. 101 f.). Er weist ausdrücklich darauf hin, dass Wehrdienstentziehungen nach wie vor wahrscheinlich als politischer regierungsfeindlicher Akt angesehen werden (vgl. UNHCR, Relevant Country Information of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, v. 07.05.2020, S. 9 sowie UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf, März 2021, S. 102). Auch EASO erklärt, dass Berichten zufolge das syrische Regime die Wehrdienstentziehung als Akt politischen Dissens auffasse (EASO, Country Guidance: Syria, November 2021, S. 74; Syria – Military Service, April 2021, S. 12 mit Verweis auf Quellen aus den Jahren 2012 bis 2019). Das Auswärtigen Amt geht davon aus, dass Rückkehrende von den Sicherheitsbehörden nach wie vor als Feiglinge und Fahnenflüchtige, schlimmstenfalls als Verräter bzw. Anhänger von Terroristen angesehen würden (AA, Lagebericht vom 04.12.2020, S. 26). Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verweist auf Berichte, wonach die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen, betrachte (BFA, Länderinformationsblatt vom 24.01.2022, S. 74). [...]
c) Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchtende Verfolgung geht von dem syrischen Staat und damit einem Verfolgungsakteur i. S. d. § 3c Nr. 1 AsylG aus.
d) Eine inländische Schutzalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG besteht nicht.
Der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von dem syrischen Staat verfolgte Kläger kann in keinem vom syrischen Staat kontrollierten Gebiet Schutz vor Verfolgung finden.
Ihm ist auch nicht zumutbar, sich in einem derzeit nicht vom syrischen Regime kontrollierten Teils des Landes niederzulassen. Unabhängig davon, ob der Kläger überhaupt legal und sicher in nicht von der syrischen Regierung kontrollierte Landesteile reisen könnte, wäre ihm die Niederlassung in Anbetracht der volatilen Sicherheitslage sowie der kaum vorhandenen Möglichkeit der Existenzsicherung nicht zumutbar. [...]