VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.10.2021 - 8 A 1852/20.A - asyl.net: M30362
https://www.asyl.net/rsdb/m30362
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für in Bulgarien schutzberechtigte Personen:

"Für international Schutzberechtigte, die wie der Kläger gesund und arbeitsfähig sind und die keine besondere Verletzlichkeit aufweisen, besteht in Bulgarien keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf deren Unterbringung und Versorgung."

(Amtliche Leitsätze; u.a. anschließend an OVG Sachsen, Beschluss vom 15.06.2020 - 5 A 384/18.A - asyl.net: M28834)

Schlagwörter: Bulgarien, familiäre Lebensgemeinschaft, Familieneinheit, internationaler Schutz in EU-Staat, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

16 1. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor.

17 Vor einer Weiterreise nach Deutschland ist dem Kläger in Bulgarien am 13. April 2014 Flüchtlingsschutz und damit internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden (vgl. Schreiben der Republik Bulgarien vom 23.10.2014). Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Kläger diesen Schutzstatus nicht mehr innehat. Der in Bulgarien gewährte Schutzstatus ist unbefristet und es spricht auch nichts dafür, dass die bulgarische Asylbehörde den gewährten Schutzstatus aufgehoben hat.

18 Soweit es allgemein Anhaltspunkte dafür gibt, dass die bulgarischen Asylbehörden in mutmaßlich unionsrechtswidriger Weise anerkannt Schutzberechtigten ausreisebedingt über die in der Qualifikationsrichtlinie vorgesehenen Fälle hinaus den Schutzstatus wieder entzogen hätten, so wäre dieser Umstand nicht entscheidungserheblich. Denn der Kläger ist im Jahr 2014 aus Bulgarien ausgereist, ohne dazu gezwungen worden zu sein. Auch nach seiner Abschiebung nach Bulgarien im Jahr 2015 ist er erneut zeitnah nach Deutschland zurückgekehrt. In der nicht erzwungenen Ausreise aus dem ihm Schutz gewährenden Mitgliedstaat ist der freiwillige Verzicht auf den gewährten Schutzstatus zu erblicken. Ein solcher ggf. freiwilliger Verzicht auf die Schutzgewährung wäre ebenso zu behandeln wie der Fortbestand des Schutzes (ebenso VG Bremen, Urteil vom 07.05.2021 - 2 K 879/18 - juris Rn. 25). [...]

20 2. Auch ist eine Unzulässigkeitsentscheidung nicht ausnahmsweise nach der Rechtsprechung des EuGH aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausgeschlossen. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 88). Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen. [...]

22 Eine solche prekäre Dimension erreichen die Lebensverhältnisse für anerkannte Flüchtlinge nach der aktuellen Erkenntnislage in Bulgarien nicht.

23 Für international Schutzberechtigte, die wie der Kläger gesund und arbeitsfähig sind und die keine besondere Verletzlichkeit aufweisen, besteht in Bulgarien keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind (OVG Niedersachsen, Beschluss vom 27.04.2021 - 10 LA 66/21 - juris; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.10.2020 - 7 A 10889/18 - juris; OVG Sachsen, Urteil vom 15.06.2020 - 5 A 382/18 - juris; OVG Schleswig, Urteil vom 25.07.2019 - 4 LB 12/17 - juris; OVG Bautzen, Urteil vom 13.11.2019 - 4 A 947/17.A - juris; OVG Münster, Beschluss vom 16.12.2019 - 11 A 228/15.A - juris; OVG Hamburg, Urteil vom 18.12.2019 - 1 Bf 132/17.A; aktuell ebenso VG Braunschweig, Urteil vom 10.03.2021 - 1 A 52/21 - juris; VG Bremen, Urteil vom 19.03.2021 - 2 K 3088/17 - juris; VG Aachen, Urteil vom 15.04.2021 - 8 K 2760/18.A - juris; VG Bremen, Urteil vom 07.05.2021 - 2 K 579/18 - juris; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 18.06.2021 - 10 K 1228/20.A - juris). Dies gilt insbesondere im Hinblick auf deren Unterbringung und Versorgung.

24 a) Grundsätzlich haben Personen, die von Bulgarien als Flüchtlinge anerkannt wurden, dort die gleichen Rechte wie bulgarische Staatsbürger. Genaue Zahlen über die Anzahl Schutzberechtigter, die sich tatsächlich im Land aufhalten, gibt es nicht. Die Zahl der ankommenden und dort verbleibenden Flüchtlinge ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Übereinstimmend wird berichtet, dass Bulgarien für einen weit überwiegenden Teil von Schutzsuchenden/ Schutzberechtigten nach wie vor nur als "Transitland" angesehen werde und die wenigsten dort bleiben und sich eine Existenz aufbauen wollten (Dr. Valeria Ilareva: Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien vom 07.04.2017, S. 2).

25 b) Nach Bulgarien zurückkehrende Schutzberechtigte haben die Möglichkeit, extreme Not durch eigene Erwerbstätigkeit abzuwenden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt für Personen mit internationalem Schutz erfolgt automatisch und ist auch nicht auf bestimmte Sektoren beschränkt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Situationsbericht Bulgarien vom 19.07.2021, S. 5). Hierbei ist ein Interesse des Privatsektors festzustellen und Nichtregierungsorganisationen (NROs) unterstützen durch Jobmessen und die Vermittlung von Kontakten zu verarbeitender Industrie, Bau, Gastgewerbe, IT und Telekommunikation bei der Vermittlung von Arbeitsverträgen. Die Mehrheit der anerkannten Flüchtlinge sei bei Arbeitgebern gleicher Herkunft beschäftigt, die sich in Bulgarien ein Geschäft aufgebaut haben (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.03.2021, S. 5). In der Auskunft der Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 1. März 2018 zur bulgarischen Integrationsverordnung heißt es, dass auf dem Land häufig Mitarbeiter für einfache Tätigkeiten in der Landwirtschaft und Gastronomie, auch ohne besondere Ausbildung und bulgarische Sprachkenntnisse, gesucht würden, auf der anderen Seite aber kaum Bereitschaft der Betroffenen bestehe, sich in der Provinz niederzulassen. Bei Bedürftigkeit besteht Anspruch auf Sozialhilfe sowie auf einmalige und monatliche Familienunterstützung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Situationsbericht Bulgarien vom 19.07.2021, S. 2). Für anerkannte Flüchtlinge und deren Familien stehen grundsätzlich die gleichen Sozialleistungen wie für bulgarische Staatsangehörige und deren Familien bereit (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 07.04.2021, S. 2). Die Dauer der Gewährung von Sozialleistungen ist nicht zeitlich begrenzt, solange die Voraussetzungen vorliegen (Auskunft des Auswärtiges Amt vom 11.03.2021, S. 4).

26 c) Auch ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass international Schutzberechtigte in Bulgarien obdachlos werden. Grundsätzlich müssen sich anerkannt Schutzberechtigte im Falle ihrer Rückkehr selbst um eine Unterkunft bemühen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.03.2021, S. 1). Für die Anmietung von Privatwohnungen bestehen keine besonderen Voraussetzungen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.03.2021, S. 3). Bei der Wohnungssuche erhalten Rückkehrende Hilfe von NROs (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.03.2021, S. 1). Unabhängig von der Möglichkeit, Wohnraum selbst zu finanzieren und anzumieten, gewähren die Aufnahmezentren für Asylbewerber bei freien Kapazitäten auch international Schutzberechtigten für sechs Monate Unterkunft. Die Zentren sind derzeit nur gering ausgelastet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien vom 24.07.2020). Das bulgarische Rote Kreuz teilte mit, sogenannte "Winterunterkünfte" zu betreiben, in denen auch Rückkehrerinnen und Rückkehrer unterkommen könnten (Auskunft des Auswärtiges Amtes vom 11.03.2021, S. 2).

27 d) Der Zugang zum Gesundheitssystem ist ebenfalls sichergestellt. Die Versicherung im nationalen Gesundheitssystem ist grundsätzlich auch für international Schutzberechtigte zugänglich. Voraussetzung ist die Zahlung eines monatlichen Beitrags wie bei bulgarischen Staatsangehörigen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien vom 24.07.2020, S. 17). Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist auch beim Fehlen einer Krankenversicherung die gemäß Art. 3 EMRK gebotene medizinische Notfallversorgung gegeben (VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 18.06.2021 - 10 K 1228/20.A - juris). Anerkannt Schutzberechtigte haben wie bulgarische Staatsangehörige beitragsfreien Zugang zu Notfallbehandlungen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.03.2021, S. 6). Laut Auskunft der bulgarischen staatlichen Agentur für Flüchtlinge war die medizinische Versorgung für Personen mit internationalem Schutz durch die Pandemie nicht eingeschränkt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Situationsbericht Bulgarien vom 19.07.2021, S. 11).

28 e) Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sich die allgemeine und wirtschaftliche Lage in Bulgarien im Zuge der COVID-19-/Corona-Pandemie seit März 2020 in einer Weise verschlechtert hätte, die bei gesunden und arbeitsfähigen international Schutzberechtigten im Fall einer Rückkehr nach Bulgarien nunmehr zu einem "Automatismus der Verelendung" führen würde. Die Arbeitslosenquote belief sich in Bulgarien im September 2021 auf 5,5 % (de.statista.com) und liegt damit im Vergleich unter dem Durchschnitt der übrigen EU-Länder (6,7 %). Auch in Bezug auf Bulgarien selbst ist im Jahresvergleich dabei kein signifikanter Anstieg der Arbeitslosenquote zu verzeichnen (Jahr 2016: 7,6 %; 2017: 6,2 %; 2018: 5,2 %; 2019: 4,2 % und 2020: 5,1 %; Quelle: de.statista.com). [...]