OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 15.06.2020 - 5 A 384/18.A - asyl.net: M28834
https://www.asyl.net/rsdb/M28834
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für arbeitsfähige Schutzberechtigte hinsichtlich Bulgariens:

"1. Für Bulgarien ist derzeit auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht von einer Gefahrenlage für arbeitsfähige Schutzberechtigte auszugehen, die zu einem Verstoß gegen Art. 4 der Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK führt.

2. Für die Prognose, ob einem Ausländer, dem in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde, im Falle der Rückkehr in diesen Staat eine gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht, ist nicht im Regelfall von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband in diesen Staat auszugehen, wenn der Ausländer zwar im Bundesgebiet mit einer Lebensgefährtin und einem gemeinsamen minderjährigen Kind in familiärer Gemeinschaft lebt, der Familienverband aber erst im Bundesgebiet begründet wurde und es sich bei den Familienangehörigen um in Deutschland als Flüchtlinge anerkannte syrische Staatsbürger handelt, die keinen Bezug zu dem anderen Mitgliedstaat haben.

3. Beim Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist die Aufnahmebereitschaft des Mitgliedstaats, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht zu prüfen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bulgarien, familiäre Lebensgemeinschaft, Familieneinheit, internationaler Schutz in EU-Staat, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris) ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt, und zwar auch dann, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist. Dieser Entscheidung lag folgende Familien-Konstellation zu Grunde: Der dortige Kläger, seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder waren afghanische Staatsangehörige, der Familienverband bestand bereits in Afghanistan, alle reisten gemeinsam aus und die Prognose betraf die gemeinsame Rückkehr aller Familienangehörigen in ihr Herkunftsland. Offen gelassen hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage, ob diese Regelvermutung auch dann gilt, wenn die familiäre Gemeinschaft im Herkunftsland noch nicht bestanden hat (Beschl. v. 15. August 2019 - 1 B 33.19 -, juris). [...]

Anders als in der Konstellation, die dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 zugrunde lag, ist bei der vorliegenden Konstellation bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation nicht im Regelfall davon auszugehen, dass der Kläger im Familienverband nach Bulgarien zurückkehrt. Der Familienverband wurde erst in Deutschland begründet. Die Lebensgefährtin des Klägers hat keinen Bezug zu Bulgarien, denn sie ist syrische Staatsangehörige und lebt in Deutschland als Flüchtling. Deshalb ist auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG/Art. 8 EMRK ein gemeinsamer Verbleib der Familie in Bulgarien nicht realitätsnah. Der Kläger hat auch nicht geltend gemacht, dass seine Lebensgefährtin ihn im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien dauerhaft begleiten werde.

bb) Im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien ohne sein Kind und seine Lebensgefährtin droht dem Kläger keine gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Ein vom Willen des arbeitsfähigen und gesunden Klägers unabhängiger "Automatismus der Verelendung" bei einer Rückkehr nach Bulgarien lässt sich nicht feststellen. [...]

(1.) Für die Zeit bis zum Beginn der Corona-Pandemie in Europa im März 2020 gehen sämtliche veröffentlichten obergerichtlichen Entscheidungen, die nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 19. März 2019 - C-163/17 - und - C-297/17 u. a. - ergangen sind, davon aus, dass arbeitsfähigen Männern bei einer Rückkehr nach Bulgarien keine gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht (OVG Schl.-H., Urt. v. 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 und 4 LB 14/17 -; VGH BW, Beschl. v. 22. Oktober 2019 - A 4 S 2476/19 -; SächsOVG, Urt. v. 13. November 2019 - 4 A 947/17.A - zu einem Dublin-Fall; OVG NRW, Beschl. v. 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -; OVG Hamburg, Urt. v. 18. Dezember 2019 - 1 Bf. 132/17.A -; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 18. Dezember 2019 - OVG 3 B 8.17 - und OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 17. März 2020 - 7 A 10903/18 -, jeweils juris). Den dort enthaltenen tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen schließt sich der Senat an.

Nach den dem Senat zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnissen droht anerkannten Schutzberechtigten in Bulgarien in der Praxis nicht die Obdachlosigkeit. Zwar wird in zahlreichen Berichten und Auskünften hervorgehoben, dass die Wohnungssuche in Bulgarien für anerkannte Schutzberechtigte besonders schwierig sei (vgl. ausführlich etwa OVG Schl.-H., Urt. v. 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 -, juris Rn. 97 bis 105; OVG Hamburg, Urt. v. 18. Dezember 2019 - 1 Bf 132/17.A -, juris Rn. 53 bis 59). Keinem der zahlreichen in der Rechtsprechung ausgewerteten Erkenntnismittel lässt sich jedoch konkret entnehmen, dass eine große Anzahl anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien unter Obdachlosigkeit, Hunger oder Entbehrung leidet. Auch der Senat hat keinen Hinweis darauf, dass anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien im Allgemeinen obdachlos oder davon besonders gefährdet sind.

Anerkannte Schutzberechtigte haben die Möglichkeit, in den nicht ausgelasteten Aufnahmezentren für Asylbewerber für sechs Monate Unterkunft zu erhalten. Daneben gibt es landesweit zwölf "Zentren für temporäre Unterkunft"; hier ist eine Unterbringung pro Kalenderjahr für jeweils drei Monate möglich, die im Notfall um weitere drei Monate verlängert werden kann (vgl. VGH BW, Beschl. v. 27. Mai 2019 - A 4 S 1329/19 -, juris Rn. 20 f., m. w. N.). Hinzu kommen noch zwei kommunale "Krisenzentren" zur Unterbringung von Obdachlosen, die in den Wintermonaten (1. Dezember bis 31. März) geöffnet sind; hier stehen 170 Plätze zur Verfügung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [2016], S. 8). Das Council of Refugee Women in Bulgaria verfügt in Sofia über eine zentrale Sammel- und Ausgabestelle für gespendete Lebensmittel, Kleidung, Alltagsgegenstände etc., die Asylbewerbern wie auch anerkannten Schutzberechtigten zu Gute kommen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris Rn. 58 ff.).

Alle zitierten obergerichtlichen Entscheidungen gehen für die Zeit vor Beginn der Corona-Pandemie davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt auf dem vom Europäischen Gerichtshof benannten Niveau selbstständig zu bestreiten, auch wenn eine erfolgreiche Arbeitssuche schwierig sein mag (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 18. Juli 2017 an das Nds. OVG; VGH BW, Beschl. v. 27. Mai 2019 - A 4 S 1329/19 -, juris Rn. 24; OVG Schl.-H., Urt. v. 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 -, juris Rn. 111; SächsOVG, Urt. v. 12. November 2019 - 4 A 947/17.A -, juris Rn. 48 und OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 17. März 2020 - 7 A 10903/18 -, juris Rn. 59 ff.). Ob die in Bulgarien erzielbaren Einkünfte nicht ausreichen würden, um Unterhalt für sein in Deutschland verbleibendes Kind zu entrichten und Fahrtkosten für die Wahrnehmung des Umgangsrechtes in Deutschland aufzubringen, wie der Kläger geltend macht, ist hingegen nach den oben ausgeführten Maßstäben für eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ohne Belang.

In Bulgarien anerkannte Schutzberechtigte haben auch einen effektiven Zugang zu einer den Anforderungen des Art. 4 GRCh genügenden medizinischen Versorgung (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 17. März 2020 - 7 A 10903/18 -, juris Rn. 74 ff.).

(2.) Die Verhältnisse in Bulgarien haben sich durch die Corona-Pandemie nicht in einer Weise verschlechtert, die dazu führen würde, dass der Kläger als arbeitsfähiger und gesunder Mann unabhängig von seinem Willen der Verelendung anheimfiele.

Dem Kläger droht nicht die Gefahr der Obdachlosigkeit für die Zeit einer etwaigen Quarantäne und einer Übergangszeit bis zur Erlangung eines Arbeitsplatzes. So war und ist eine Gleichgültigkeit der bulgarischen Behörden, die zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, gegenüber international schutzberechtigten Personen, die aufgrund der Corona-Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren haben und deshalb öffentlicher Hilfe bedurften und bedürfen, nicht festzustellen. So wird im Artikel "Impact of government measures related to COVID-19 on third-country nationals in Bulgaria" der EU-Kommission vom 11. Mai 2020 (https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-ofgovernment-measures-related-to-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria) ausgeführt, die staatliche Agentur für Flüchtlinge (SAR) habe in ihren Aufnahmezentren Unterkünfte für Begünstigte des internationalen Schutzes angeboten, die nicht mehr berechtigt seien, dort zu leben, aber aufgrund der COVID-19-Krise von Obdachlosigkeit gefährdet seien. Die SAR biete auch Essen. Weiter wird dort ausgeführt, dass NGOs wie das bulgarische Rote Kreuz, Caritas Sofia, IOM und Council of Refugee Woman berichten, dass etwa 200 Familien ihre Unterstützung gesucht haben, weil sie ihre Arbeitsplätze verloren haben, deshalb ihre Miete nicht mehr bezahlen können und so dem hohen Risiko ausgesetzt seien, obdachlos zu werden. Das bulgarische Rote Kreuz habe angeboten, ihre Miete für einen Monat zu bezahlen und Essen zu kaufen, das Council of Refugee Woman habe wöchentliche Unterstützung für Essen angeboten. Hinsichtlich neu angekommener Asylsuchender wird in dem Bericht ausgeführt, dass während der 14-tägigen Quarantäne eine aktive Überwachung der Gesundheit erfolgt. Es gibt keine Veranlassung zu der Annahme, dass dies bei überstellten Personen, die bereits Berechtigte internationalen Schutzes sind, anders sein sollte.

Auch der Arbeitsmarkt in Bulgarien hat sich durch die Corona-Pandemie nicht in einer Weise verschlechtert, die es international Schutzberechtigten unmöglich machen würde, in zumutbarer Zeit Arbeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt auf dem vom Europäischen Gerichtshof benannten Niveau selbstständig zu bestreiten. In der Anfangszeit der Corona-Pandemie erfolgten, wie in anderen europäischen Staaten auch, sehr große Einschränkungen für die gesamte Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben. Zwischenzeitlich hat sich die Situation aber geändert. Ab 15. Juni 2020 öffnen die meisten EU-Staaten wieder ihre Grenzen für EU-Bürger ohne Kontrollen und Quarantäne-Vorschriften, so dass Saisonkräfte aus Bulgarien wieder in anderen EU-Staaten etwa in der Landwirtschaft und im Bereich des Tourismus arbeiten können und nicht mehr auf Arbeitsplätze in Bulgarien angewiesen sind, wo sie mit den dort lebenden international Schutzberechtigten konkurrieren würden. Gleichzeitig wird in den meisten EU-Staaten - mit pandemiebedingten Einschränkungen - Tourismus und Gastronomie wieder möglich. So berichtet etwa Radio Bulgarien (https://bnr.bg/de) in der deutschsprachigen Artikelserie "Covid-19 in Bulgarien: Tag 83 bis Tag 87" unter Berufung auf das bulgarische Tourismusministerium, dass Bulgarien mit dem Beginn der touristischen Sommersaison am 1. Juni Touristen aus 29 Ländern empfängt, unter anderem Bürger aus Deutschland, und für diese keine Quarantänepflicht mehr besteht. Weiter wird berichtet, dass seit dem 1. Juni die Besuche der Innenbereiche von Gaststätten, Fast-Food-Restaurants, Lokalitäten mit Alkoholausschank, Cafés, Kinder- und Sporteinrichtungen, Unterhaltungs- und Spielsälen mit Ausnahme von Discos, Nachtbars und Pianobars wieder erlaubt sind. Prognosen deuten darauf hin, dass die Wirtschaft Bulgariens im Jahre 2021 wieder jenen Stand erreichen wird, der vor der Pandemie bestand. Seit Mitte Mai sei zudem die Zahl der vermittelten Arbeitnehmer größer als die der neuen Arbeitslosen. Der Senat kann sich deshalb davon überzeugen, dass der ursprüngliche Trend des massiven Einbruchs des Arbeitsmarkts zwischenzeitlich gestoppt ist und aufgrund der überall in Europa erfolgten erheblichen Lockerungen der pandemiebedingten Beschränkungen wieder eine deutliche Trendumkehr hin zu wirtschaftlichen Verhältnissen erfolgt, die annähernd denen der Zeit vor der Pandemie entsprechen, ohne dass es hierzu der Einholung der vom Kläger beantragten Auskünfte bedurfte. [...]