Familienschutz bei abweichender Staatsangehörigkeit mit Unionsrecht vereinbar:
1. Die Anerkennungsrichtlinie RL 2011/95/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht dazu, den Familienangehörigen von Berechtigten internationalen Schutzes ebenfalls die Flüchtlingsanerkennung oder subsidiären Schutz zuzuerkennen. Nach Art. 23 RL 2011/95/EU müssen die Mitgliedstaaten jedoch dafür Sorge tragen, dass den Familienangehörigen ebenfalls die in der Anerkennungsrichtlinie festgeschriebenen Rechte für Schutzberechtigte zustehen.
2. Eine darüber hinausgehende nationale Regelung - wie der Familienschutz in § 26 AsylG - ist mit dem Unionsrecht vereinbar, da sie eine für die betroffenen Personen günstigere Regelung enthält. Dies gilt auch dann, wenn nach den nationalen Vorschriften der Familienschutz auch für Familienangehörige gewährt wird, die nicht die gleiche Staatsangehörigkeit wie die schutzberechtigte Person besitzen, sondern die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats, in dem sie nicht Gefahr laufen würden, verfolgt zu werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
20 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), Revision eingelegt. [...]
22 Das vorlegende Gericht führt aus, die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht. Aus Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 2 der Genfer Konvention, in dem der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes zum Ausdruck komme, folge nämlich, dass Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besäßen, die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden könne, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen könnten. In diesem Sinne sei auch Art. 2 Buchst. d und n der Richtlinie 2011/95 auszulegen: Nur wer schutzlos sei, weil er keinen wirksamen Schutz durch ein Herkunftsland im Sinne des Art. 2 Buchst. n der Richtlinie genieße, sei Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens könne aber in Tunesien, einem Land ihrer Staatsangehörigkeit, effektiven Schutz erlangen.
23 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erfülle jedoch die im deutschen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für minderjährige ledige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils. Denn nach § 26 Abs. 2 AsylG in Verbindung mit § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG sei zum Schutz der Familie im Asylverfahren die abgeleitete Flüchtlingseigenschaft auch einem Kind zuzuerkennen, das in Deutschland geboren worden sei und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitze, in dessen Hoheitsgebiet es nicht verfolgt werde.
24 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob eine solche Auslegung des deutschen Rechts mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist. [...]
28 Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist als Erstes festzustellen, dass ein Kind, das sich in einer Situation wie der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils beschriebenen befindet, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um selbst die Flüchtlingseigenschaft in Anwendung der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt zu bekommen. [...]
34 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens in Tunesien, einem Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie über ihre Mutter besitze, effektiven Schutz erlangen könne. Insoweit lägen keine Erkenntnisse vor, dass die Tunesische Republik nicht bereit und in der Lage wäre, der Klägerin des Ausgangsverfahrens den erforderlichen Schutz vor Verfolgung und vor Abschiebung nach Syrien, dem Herkunftsland ihres von den deutschen Behörden als Flüchtling anerkannten Vaters, oder in einen anderen Drittstaat zu gewähren.
35 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in Anwendung der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung einem Antrag auf internationalen Schutz aus eigenem Recht nicht allein deshalb stattgegeben werden kann, weil ein Familienangehöriger des Antragstellers die begründete Furcht vor Verfolgung hat oder tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wenn erwiesen ist, dass der Antragsteller trotz seiner Bindung zu diesem Familienangehörigen und der besonderen Verwundbarkeit – die, wie im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie ausgeführt, in der Regel daraus folgt – nicht selbst von Verfolgung und einem ernsthaften Schaden bedroht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C-652/16, EU:C:2018:801, Rn. 50).
36 Als Zweites ist festzustellen, dass die Richtlinie 2011/95 eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsieht. Aus Art. 23 der Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgibt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass diese Familienangehörigen gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben, die der Wahrung des Familienverbands dienen, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung dieser Familienangehörigen vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C-652/16, EU:C:2018:801, Rn. 68).
37 Ferner ergibt sich aus Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95, der für die Zwecke der Richtlinie den Begriff "Familienangehörige" definiert, in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf diese Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, erstreckt, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren wurden, die dort gegründet worden ist.
38 Als Drittes ist zur Klärung der Frage, ob ein Mitgliedstaat einem Kind, das sich in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befindet, zum Zweck der Wahrung des Familienverbands gleichwohl die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuerkennen kann, darauf hinzuweisen, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95 es den Mitgliedstaaten gestattet, "günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes [zu] erlassen oder [beizubehalten], sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind". [...]
40 Was die in diesem Art. 3 enthaltene Klarstellung anbelangt, dass jede günstigere Norm mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar sein muss, hat der Gerichtshof entschieden, dass damit gemeint ist, dass diese Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden darf. Insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C-652/16, EU:C:2018:801, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Die auf der Grundlage des nationalen Rechts erfolgende automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige einer Person, der diese Eigenschaft gemäß der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt wurde, weist jedoch nicht von vornherein keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf (Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C-652/16, EU:C:2018:801, Rn. 72). [...]
52 Aus der Entstehungsgeschichte dieses Art. 23 ergibt sich somit, dass ein Mitgliedstaat, der in Ausübung der in Art. 3 der genannten Richtlinien erteilten Befugnis günstigere Normen erlassen oder beibehalten möchte, wonach der einem solchen Berechtigten gewährte Status automatisch auf seine Familienangehörigen – unabhängig davon, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Status erfüllen – erstreckt wird, bei der Anwendung dieser Normen auf die Einhaltung des in Art. 23 Abs. 2 genannten Vorbehalts zu achten hat.
53 Der Umfang dieses Vorbehalts ist im Hinblick auf das Ziel von Art. 23 der Richtlinie 2011/95, die Wahrung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu gewährleisten, und den spezifischen Kontext, in den sich dieser Vorbehalt einfügt, zu bestimmen.
54 Insoweit ist festzustellen, dass es mit der persönlichen Rechtsstellung des Kindes des international Schutzberechtigten, das selbst nicht die Voraussetzungen dieses Schutzes erfüllt, insbesondere unvereinbar wäre, die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen oder die Rechtsstellung des Schutzberechtigten auf dieses Kind zu erstrecken, wenn es die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats oder eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, die ihm unter Berücksichtigung aller Merkmale seiner persönlichen Rechtsstellung einen Anspruch auf eine bessere Behandlung in diesem Mitgliedstaat als die sich aus dieser Erstreckung ergebende Behandlung gibt. [...]
62 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden, sofern dieses Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt. Insoweit ist es nicht von Bedeutung, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in diesem anderen Drittstaat zu nehmen. [...]