LG Osnabrück

Merkliste
Zitieren als:
LG Osnabrück, Beschluss vom 29.11.2021 - 11 T 492/21; 11 T 516/21 - asyl.net: M30229
https://www.asyl.net/rsdb/m30229
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung hinsichtlich Ausreisegewahrsam rechtswidrig:

1. Die Anordnung von Ausreisegewahrsam gemäß § 62b AufenthG liegt im Ermessen des Gerichts. Das Gericht muss sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausüben und insbesondere eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vornehmen. Dabei hat es die individuellen Lebensumstände der Betroffenen zu berücksichtigen.

2. Die einstweilige Anordnung einer Freiheitsentziehung ohne vorherige persönliche Anhörung der Betroffenen kann gemäß § 427 Abs. 2 FamFG nur bei Gefahr im Verzug erfolgen. Das setzt regelmäßig den auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Verdacht voraus, dass sich die betroffene Person der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will. Die allgemeine Gefahr, dass Betroffene sich dem Haftverfahren durch Untertauchen entziehen könnten, ist nicht ausreichend.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BGH, Beschluss vom 23.02.2021 - XIII ZB 50/20 - asyl.net: M29604)

Schlagwörter: Anhörung, Abschiebungshaft, einstweilige Anordnung, Ausreisegewahrsam, Ermessen,
Normen: FamFG § 427 Abs. 2, AufenthG § 62b Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Haftrichter ist gesetzlich nicht verpflichtet, Ausreisegewahrsam anzuordnen, wenn er das Vorliegen der Voraussetzungen hierfür nach § 62b AufenthG festgestellt hat. Im Unterschied zur Sicherungshaft, die nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in diesem Fall anzuordnen ist, hat der Haftrichter bei der Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Ermessen. [...] Die Anordnung von Ausreisegewahrsam ist deshalb nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen; die Ausübung des Ermessens erfordert eine Berücksichtigung der relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen, § 38 Abs. 3 Satz 1, § 96 Abs. 2 FamFG (so BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 50/20 -, Rn. 23 f., juris).

Diesen Anforderungen genügt der angefochtene Beschluss vom 20.07.2021 nicht. Bezüglich der Anordnung des Ausreisegewahrsams werden der Ablauf der Ausreisefrist, die Durchführbarkeit der Abschiebung sowie die für die Vermutung einer Erschwerung bzw. Verhinderung der Abschiebung sprechenden Umstände, mithin also die gesetzlichen Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG, erörtert. Dagegen ist aus den Entscheidungsgründen nicht ersichtlich, inwieweit das Gericht demgegenüber die persönlichen Umstände des Betroffenen berücksichtigt hat. Aus dem Antrag der Ausländerbehörde ist hierzu ersichtlich, dass der Betroffene am 01.08.2020 eine Beschäftigung aufgenommen hatte und seit dem 12.05.2021 mit der deutschen Staatsangehörigen ... verheiratet ist. Diese Umstände hätten nach den vom Bundesgerichtshof aufgezeigten Maßstäben in Hinblick auf die Erforderlichkeit der Anordnung eines Ausreisegewahrsams abgewogen werden müssen, und zwar unabhängig davon, dass die erfolgte Eheschließung ggf. keine unmittelbaren Auswirkungen auf die zuvor begründete Ausreisepflicht des Betroffenen hatte. [...]

b) Der angefochtene Beschluss hat den Betroffenen zudem in seinen Rechten verletzt, weil die Voraussetzungen für die einstweilige Anordnung einer Freiheitsentziehung ohne vorherige persönliche Anhörung des Betroffenen gern. § 427 Abs. 2 FamFG nicht vorlagen. Die einstweilige Anordnung einer Freiheitsentziehung ohne vorherige persönliche Anhörung des Betroffenen kann gern. § 427 Abs. 2 FamFG nur bei Vorliegen von "Gefahr in Verzug" erfolgen; dies setzt voraus, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung so dringend erforderlich ist, dass nicht einmal die Durchführung einer persönlichen Anhörung des Betroffenen und die Anhörung eines etwa zu bestellenden Verfahrenspflegers abgewartet werden kann (vgl. Keidel, FamFG, 20. Auflage 2020, § 427 Rn. 11 ). Keinesfalls genügt es insoweit, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit gern. § 422 FamFG vorliegen; vielmehr sind die sachlichen Anforderungen in diesem Zusammenhang in Anlehnung an § 62 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 AufenthG zu bestimmen. Das Recht der Behörde zu einer haftvorbereitenden Ingewahrsamnahme setzt danach den begründeten, also durch konkrete Anhaltspunkte gestützten Verdacht voraus, dass sich der Betroffene der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will. Für eine einstweilige Anordnung, die demselben Zweck dient, nämlich zu gewährleisten, dass der Betroffene für das weitere Verfahren zur Verfügung steht, in dem die Voraussetzungen der Freiheitsentziehung nach persönlicher Anhörung erst noch näher festgestellt werden müssen, können keine geringeren Anforderungen gelten (Keidel/Göbel, 20. Aufl. 2020, FamFG § 427 Rn. 14).

Nicht ausreichend ist es danach, dass bei einer Vorladung eines Ausländers zur persönlichen Anhörung über einen Haftantrag der Behörde allgemein die Gefahr besteht, dass der Betroffene sich dem Verfahren durch Untertauchen entzieht (LG Mosbach, Beschluss v. 05.03.2020 - 3 T 42/19, m.w.N.). [...]