VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 - asyl.net: M30220
https://www.asyl.net/rsdb/m30220
Leitsatz:

Vulnerablen droht bei Dublin Überstellungen nach Italien im Einzelfall unmenschliche oder entwürdigende Behandlung:

"Der Senat hält auch in Zeiten der Corona-Pandemie an seiner ständigen Rechtsprechung seit dem Jawo-Endurteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 - fest, dass gesunde und arbeitsfähige Antragsteller derzeit in Italien grundsätzlich weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem "real risk" einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt werden [...].

Bei vulnerablen Menschen kann im Einzelfall anderes gelten, weshalb hier auch bei Würdigung des EGMR-Urteils vom 23.03.2021 in der Rechtssache "MT" (- 46595/19 -) weiterhin vor Rücküberstellung in behördlicher Kooperation sichergestellt werden muss, dass besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901; siehe auch: EGMR, Urteil vom 23.3.2021 – 46595/19: M.T. gegen die Niederlande – hudoc.echr)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Corona-Virus, besonders schutzbedürftig, vulnerable, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, Zusicherung, Unterbringung, Arbeitsgelegenheit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

II. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachte Grundsatzbedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. [...]

Denn der erkennende Senat hat die vom Kläger aufgeworfene Frage bereits hinreichend eindeutig mit Grundsatzurteil vom 29.07.2019 (- A 4 S 749/19 -; Endentscheidung nach Vorlage und Urteil des EuGH vom 19.03.2019 in der Rechtssache Jawo C-163/17) entschieden, an dem er seither auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie in ständiger Rechtsprechung festhält (vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 21.12.2020 - A 4 S 3958/20 - und 27.01.2021 - A 4 S 99/21 -; beide Juris). Zusammengefasst geht der Senat davon aus, dass nichtvulnerable Flüchtlinge bei Rückführung nach Italien dort grundsätzlich kein "real risk" einer die Schwelle von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK erreichenden Verelendung zu befürchten haben, weil sie ihre Grundversorgung mit "Bett, Brot und Seife" durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen können. Gesunde und arbeitsfähige Antragsteller sind auch derzeit in Italien weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt. Demgegenüber geht der Senat weiterhin davon aus, dass dies in Italien bei vulnerablen Menschen, d.h. Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit, grundsätzlich anders zu bewerten ist, weswegen hier vor Rücküberstellung in behördlicher Kooperation sichergestellt werden muss, dass deren besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist. An seiner Rechtsprechung hält der Senat auch vor dem Hintergrund des von der Beklagten zitierten EGMR-Urteils in der Rechtssache "MT" sowie der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen im Lichte aktueller Erkenntnisquellen fest. [...]