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LG Dortmund

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Zitieren als:
LG Dortmund, Beschluss vom 16.11.2021 - 9 T 249/21 - asyl.net: M30198
https://www.asyl.net/rsdb/m30198
Leitsatz:

Rechtswidrige Nichtbeiziehung der Ausländerakte sowie Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht aus Art. 104 GG:

1. Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte vor dem Erlass einer Haftentscheidung ist jedenfalls dann rechtswidrig, wenn nicht im Einzelfall begründet wird, warum von der Beiziehung abgesehen werden kann.

2. Das Amtsgericht hat vorliegend den bevollmächtigten Rechtsanwalt nicht gem. Art. 104 Abs. 4 GG unverzüglich über die Anordnung des Ausreisegewahrsams benachrichtigt. Die Verletzung des Art. 104 Abs. 4 GG berührt nicht den sachlichen Inhalt der angefochtenen Entscheidung, ist jedoch durch das Landgericht festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung unter Berufung auf BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16 (Asylmagazin 8/2020, S. 286 f.) - asyl.net: M28466).

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Vertrauensperson, Prozessbevollmächtigte, Verfahrensbevollmächtigte, rechtliches Gehör, Akteneinsicht, Benachrichtigungspflicht, Freiheitsentziehung, Recht auf Freiheit, Freiheitsrecht, subjektives Recht, Beziehung von Akten, Rechtsbeschwerde, Rechtsanwalt,
Normen: GG Art. 104 Abs. 1, GG Art. 104 Abs. 4, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Der Beschluss vom 20. Mai 2021 hat den Beteiligten zu 1) schon deshalb in seinen Rechten verletzt, weil das Amtsgericht Unna nicht dargelegt hat, warum es von einer Beiziehung der Ausländerakte abgesehen hat, und der Beschluss nicht erkennen lässt, dass die Ermessensausübung auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage und damit fehlerfrei erfolgt ist. Die Akten der Ausländerbehörde sind als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Freiheitsentziehung in aller Regel beizuziehen (BVerfG InfAuslR 2020, 343; BVerfG InfAuslR 2008, 133). Auch wenn es in Einzelfällen denkbar ist, dass die Ausländerakte keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Antrags der Ausländerbehörde nebst Anlagen hinausgehen, so muss der Haftrichter in einem solchen Einzelfall doch zumindest ausdrücklich in seinem Beschluss feststellen und plausibel begründen, warum ausnahmsweise von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen werden konnte (BVerfG InfAuslR 2020, 343). Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte ohne jegliche Begründung belastet den gleichwohl angeordneten Abschiebegewahrsam mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist und hinsichtlich dessen es sich verbietet, zu untersuchen, ob die Anordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht (BVerfG InfAuslR 2020, 343). Der Haftrichter ist gesetzlich nicht verpflichtet, Ausreisegewahrsam anzuordnen, wenn er das Vorliegen der Voraussetzungen hierfür nach § 62b AufenthG festgestellt hat. Im Unterschied zur Sicherungshaft, die nach § 62 Abs. 3 S. 1 AufenthG in diesem Fall anzuordnen ist, hat der Haftrichter bei der Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b Abs. 1 S. 1 AufenthG ein Ermessen (BGH, InfAuslR 2021, 339; BGH NVwZ-RR 2018, 746). Er kann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit deshalb nicht nur bei der Bestimmung der Länge des anzuordnenden Ausreisegewahrsarns, sondern auch dadurch Rechnung tragen, dass er von der Anordnung trotz Vorliegens der Voraussetzungen absieht. Die Anordnung von Ausreisegewahrsam ist deshalb nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. Gemäß § 38 Abs. 3 S. 1 FamFG sind die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (BGH InfAuslR 2021, 339; BGH NVwZ-RR 2018, 746). Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams nach § 62b AufenthG erfordert eine Berücksichtigung der relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen (BGH InfAuslR 2021, 339). Das Amtsgericht Unna hat in den Beschlussgründen lediglich ausgeführt, dass in Anbetracht der langen Zeit, die die Ausreisefrist bereits abgelaufen sei, das Sicherungsinteresse des Staates die Freiheitsinteressen des Beteiligten zu 1) deutlich überwiege. Welche Umstände sonst bei der Ermessensausübung herangezogen worden sind und dass das Amtsgericht Unna auch geprüft hat, ob zu Gunsten des Beteiligten zu 1) zu berücksichtigende persönliche Umstände vorlagen, geht aus dem Beschluss vom 20. Mai 2021 nicht hervor.

Das Amtsgericht Unna hat gegen Art. 104 Abs. 4 GG verstoßen, weil es nicht Herrn Rechtsanwalt ... unverzüglich von der Anordnung des Ausreisegewahrsams gegen den Beteiligten zu 1) benachrichtigt hat. Als Person des Vertrauens ist in der Regel auch der Rechtsanwalt des Betroffenen anzusehen (BVerfG InfAuslR 2020, 343; BVerfG MDR 1975, 30). Da die Verletzung des Art. 104 Abs. 4 GG den sachlichen Inhalt der angefochtenen Entscheidung nicht berührt, ist insoweit lediglich auszusprechen, dass die unterlassene Benachrichtigung der Person des Vertrauens den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 4 GG verletzt hat (BVerfG InfAuslR 2020, 343; BVerfG MDR 1975, 30; BVerfGE 16, 119). [...]