LG München I

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Zitieren als:
LG München I, Beschluss vom 05.10.2021 - 13 T 3982/21 - asyl.net: M30059
https://www.asyl.net/rsdb/m30059
Leitsatz:

Unzureichende Begründung des Haftbeschlusses bei bloßer Bezugnahme auf den Haftantrag der Behörde:

1. Die Anordnung einer Freiheitsentziehung stellt einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person dar. Die Tatsachen, aus denen sich die Befugnis zur Freiheitsentziehung ergibt, müssen im jeweiligen Beschluss festgestellt werden, damit erkennbar ist, worauf es für die Entscheidung ankommt. Es ist nicht ausreichend, wenn sich der gerichtliche Beschluss auf den behördlichen Antrag bezieht.

2. Eine Anordnung des Ausreisegewahrsams darf nur unter gerichtlicher Ermessensausübung ergehen, die im Beschluss erkennbar sein muss. Eine Bezugnahme auf den Antrag der Behörde ist unzulässig, da das Gericht gerade eigenständige Ermessenserwägungen anzustellen hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftbeschluss, Ermessen, Freiheitsentziehung, Grundrechtseingriff, Grundrechte, Begründung, Begründungserfordernis, Beschluss, Gericht, Behörde,
Normen: AufenthG § 62b, FamFG § 38 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

2. Die Beschwerden sind in der Sache begründet. Beide Beschlüsse sind nicht ausreichend begründet.

2.1. Soweit es um die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung des Ausreisegewahrsams im Sinne von § 62b AufenthG geht, erfolgt lediglich eine Bezugnahme auf den Antrag bzw. auf die im Antrag unter den Punkten II., III. und IV gemachten Ausführungen der Ausländerbehörde.

Damit wird dem gesetzlichen Begründungserfordernis (§ 38 Abs. 2 FamFG) nicht Genüge getan. Bei der Frage, welche Angaben unerlässlich sind, ist zwischen den verschiedenen Regelungsgegenständen zu unterscheiden. Insbesondere bedürfen Beschlüsse, die einen erheblichen Eingriff in Grundrechte eines Beteiligten zur Folge haben, wie etwa in Kindschaftssachen oder Betreuungssachen, einer eingehenden Begründung (BeckOK FamFG/Obermann, 39. Ed. 1.7.2021, FamFG § 38 Rn. 59).

Dies gilt auch für Freiheitsentziehungssachen, die einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte des davon Betroffenen darstellen. In diesem Fall müssen die Tatsachen, aus denen sich die Befugnis zur Freiheitsentziehung ergibt, im Beschluss - wenn auch knapp - selbst festgestellt werden. Nur dann ist für den Betroffenen erkennbar, worauf es für die Entscheidung ankommt. Erst dadurch wird er in die Lage versetzt, seinen grundrechtlich geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht wahrzunehmen. Die bloße Bezugnahme auf den behördlichen Antrag ist ungenügend.

2.2. Im vorliegenden Fall, bei dem es um die Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthaltsG geht, ist das Begründungserfordernis schon deshalb wesentlich, weil es sich dabei um eine gerichtliche Ermessensentscheidung handelt.

BGH Beschl. v. 20.4.2018-V ZB 226/17, BeckRS 2018, 11008 Rn. 12, beck-online:

"Die Entscheidung über die Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert deshalb eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1, § 96 Abs. 2 FamFG). Das Rechtsbeschwerdegericht darf zwar nicht das Ermessen des Tatrichters durch eine eigene Entscheidung ersetzen. Er hat aber zu überprüfen, ob eine Ermessensentscheidung überhaupt stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Januar 2012 - V ZB 221/11, FGPrax 2012, 84 Rn. 4 zur 'kleinen Sicherungshaft'."

BeckOK AuslR/Kluth, 30. Ed. 1.7.2021, AufenthG § 62b Rn. 9:

"Bei der Ausübung des Ermessens ist sowohl durch die beantragende Behörde als auch durch das anordnende Gericht neben den vorgenannten Tatbestandsmerkmalen auch der ultima ratio Charakter des Ausreisegewahrsams zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus Art. 15 Abs. 1 S. 1 RL 2008/115/EG. Die Entscheidung ist auch in dieser Hinsicht zu begründen.

In den Gründen der angefochtenen Entscheidungen fehlen jegliche Ausführungen des Gerichts zur gerichtlichen Ermessensausübung. Ob eine gerichtliche Ermessensabwägung überhaupt stattgefunden hat, lässt sich nicht feststellen. Die Bezugnahme auf den Antrag der Ausländerbehörde kann die fehlende gerichtliche Begründung zur Ermessensausübung schon deshalb nicht ersetzen, weil die Behörde unter Punkt II. 2.6. lediglich Ausführungen zu ihrer eigenen Ermessensausübung gemacht hat.

2.3. Die Beschwerdekammer kann die fehlende Ermessensausübung nicht mehr nachholen. Der Beschwerdeführer kann, da er am 25.03.2021 abgeschoben wurde, zu den für die Ermessensentscheidung relevanten Umständen im Beschwerdeverfahren nicht mehr angehört werden. Es ist anhand des Anhörungsprotokolls des Amtsgerichts (Bl. 17 ff.) nicht feststellbar, dass der Beschwerdeführer vom Amtsgericht zu den für die Ermessensentscheidung relevanten Umständen angehört wurde. [...]