BlueSky

VG Dresden

Merkliste
Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 26.05.2021 - 3 L 339/21 - asyl.net: M30017
https://www.asyl.net/rsdb/m30017
Leitsatz:

Keine "Duldung light" bei fehlender Kausalität für Abschiebungshindernis:

1. Eine Duldung "für Personen mit ungeklärter Identität" nach § 60b AufenthG darf nicht erteilt werden, wenn neben der Verletzung der besonderen Passbeschaffungspflichten des § 60b Abs. 3 AufenthG weitere Hindernisse der Abschiebung entgegenstehen.

2. An die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums, wonach die Ausstellung der "Duldung light" bei Verletzung der besonderen Passbeschaffungspflichten unabhängig von weiteren Abschiebungshindernissen grundsätzlich vorgesehen ist, ist das Gericht nicht gebunden. Die Rechtsauffassung des BMI findet sich in der Gesetzesbegründung nicht wieder, zudem widerspricht sie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

(Leitsätze der Redaktion; ausdrücklich entgegen BMI-Anwendungshinweise, Behördliche Mitteilung vom 14.04.2020 - - asyl.net: M28354)

Schlagwörter: Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Duldung, Afghanistan, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 60b Abs. 3, AufenthG § 60b,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60b Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor.

Nach § 60b Abs. 1 AufenthG wird einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer die Duldung im Sinne des § 60a als "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" erteilt, wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt oder er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach § 60b Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 nicht vornimmt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

Zwar ist der Antragsgegnerin zuzustimmen, dass der Antragsteller derzeit ihm zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 Nr. 6 AufenthG nicht vornimmt. Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller erstmals am 12.12.2019 auf seine besonderen Passbeschaffungspflichten nach § 60b AufenthG hingewiesen und ihm mit Schreiben vom 6.5.2021 mitgeteilt, dass nach der Umstellung des Terminierungssystems der afghanischen Botschaft im Mai 2020 alte Termine entfallen sind und er sich online um einen zeitnahen Termin bemühen kann. Dass er seitdem entsprechende Bemühungen zur Erlangung eines neuen Termins bei der Botschaft unternommen hat, hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.

Die Passlosigkeit des Antragstellers wirkt sich aber vorliegend insofern nicht aus, als sie nicht kausal dafür ist, dass seine Abschiebung nicht vollzogen werden kann. Selbst wenn die für seine Abschiebung zuständige Zentrale Ausländerbehörde über einen Pass des Antragstellers verfügen würde, dürfte sie ihn aufgrund des Beschlusses vom 25.11.2019 nicht abschieben. Er hat es also nicht zu vertreten, dass seine Abschiebung nicht vollzogen werden kann.

Insofern folgt die Kammer nicht der Argumentation der Antragsgegnerin, wonach sich bereits aus dem Wortlaut des § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ergebe, dass sich die geforderte Kausalität für die Nichtvollziehbarkeit der Abschiebung, lediglich auf den ersten Halbsatz und die dort genannten Tatbestandsalternativen, nämlich Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben, beziehe. Vielmehr macht der Umstand, dass der Halbsatz "wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann" vor den mit "weil" beginnenden Satz gestellt ist, deutlich, dass sich die geforderte Kausalität auf alle in den selbstständig nebeneinanderstehenden Fallgruppen beschriebenen Verhaltensweisen des Ausländers bezieht (s. auch Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, Besonderer Teil, zu § 60b Absatz 1, BT-Drs. 19/10047, S. 38).

Hinsichtlich des erforderlichen Kausalzusammenhangs zwischen der Verhaltensweise des Ausländers und der Unmöglichkeit der Abschiebung folgt die Kammer auch nicht den - im Übrigen das Gericht nicht bindenden - Anwendungshinweisen des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zu § 60b des Aufenthaltsgesetzes vom 14.4.2020. Dort wird unter Nr. 1.9 ausgeführt: "Kann die Abschiebung zusätzlich aus einem anderen Grund nicht vollzogen werden, der nicht in § 60b Absatz 1 AufenthG genannt ist, soll grundsätzlich dennoch die Duldung "für Personen mit ungeklärter Identität" erteilt werden. Es genügt also für die Ausstellung der Duldung "für Personen mit ungeklärter Identität" grundsätzlich, dass ein dafür ausreichender Grund gegeben ist. Auf andere Duldungsgründe kommt es daneben grundsätzlich nicht mehr an".

Diese Sichtweise findet sich in der Gesetzesbegründung nicht wieder. Zwar ist Ziel des Gesetzgebers, mit der Einführung des § 60b AufenthG eine besondere Sanktionsmöglichkeit für den Fall der Nichterfüllung der Passpflicht zu schaffen (s. BT-Drs. 19/10047, S. 37; Bundesminister Seehofer in der Ersten Beratung des Gesetzentwurfs, Plenarprotokoll 19/101, S. 12184). Auch hier wird aber vorausgesetzt, dass der Ausreisepflichtige für das Ausreisehindernis selbst verantwortlich ist.

Dies folgt auch daraus, dass eine Sanktion nur dann verhältnismäßig ist, wenn der verfolgte Zweck erreicht werden kann. Steht der erfolgreichen Abschiebung aber noch ein weiteres Hindernis entgegen, auf das das Verhalten des Betroffenen keinen Einfluss hat, so liegt diese Voraussetzung nicht vor. Die mit der Regelung verbundenen Nachteile würde dann die Mitwirkungsverweigerung isoliert sanktionieren, was ausweislich des Wortlauts der Norm aber gerade nicht beabsichtigt ist (Kluth in BeckOK, Ausländerrecht, 29. Edition, Stand 1.1.2021, § 60b Rn. 16).

Im Übrigen kann hinsichtlich des Kausalitätserfordernisses auf die obergerichtliche Rechtsprechung zum vergleichbar formulierten § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG verwiesen werden (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 21.1.2020 - 13 ME 368/19 - juris; SächsOVG, Beschl. v. 28.7.2020 - 3 B 45/20 - juris Rn. 21; BayVGH, Beschl. v. 9.7.2019 - 10 C 18.1082 - juris Rn. 8).

Der Antragsteller hat - aus denselben Gründen, aus denen die Inanspruchnahme einstweiligen vorbeugenden Rechtsschutzes ausnahmsweise gerechtfertigt ist - auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin beabsichtigt bereits in wenigen Tagen, ihm die Duldung als "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" zu erteilen, was mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes verbunden wäre, den er seit einem Jahr innehat. [...]