OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 11.05.2021 - 9 LA 124/20 - asyl.net: M29633
https://www.asyl.net/rsdb/m29633
Leitsatz:

Kein Familienasyl bei verspäteter Antragstellung:

"1. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Eltern bzw. minderjährigen ledigen Geschwistern, die nach der Anerkennung ihres minderjährigen Kindes bzw. Geschwisters in das Bundesgebiet eingereist sind, setzt gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 zweite Alternative, Satz 2, Abs. 5 AsylG voraus, dass der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich - d.h. in der Regel innerhalb von zwei Wochen - nach der Einreise gestellt worden ist.

2. Auf eine Kenntnisnahme der erforderlichen Umstände kommt es nicht an. § 26 AsylG sieht keine diesbezüglichen Hinweis- und Belehrungspflichten vor.

3. Die Voraussetzung der unverzüglichen Antragstellung nach Einreise gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 zweite Alternative AsylG für die Zuerkennung von Familienasyl stellt keinen Verstoß gegen Artikel 10 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU und Artikel 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU dar."

(Amtliche Leitsätze; zur Frage der Unionsrechtskonformität des Familienschutzes, siehe EuGH, Urteil vom 09.11.2021 - C-91/20 - LW gg. Bundesrepublik Deutschland - asyl.net: M30149)

Schlagwörter: Familienschutz, Hinweispflicht, Unionsrecht, Unverzüglichkeit, Asylantrag, Asylverfahrensrichtlinie, Qualifikationsrichtlinie,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, RL 2013/32/EU Art. 10 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

10 Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 13. Mai 1997 (a.a.O., Rn. 10) zum Erfordernis der Unverzüglichkeit im Sinne des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG a. F. (1993) im Hinblick auf Kinder eines Asylberechtigten, die in Deutschland nach dessen Antragstellung, aber vor der Anerkennung geboren worden sind, ausgeführt, dass unverzüglich entsprechend der Legaldefinition in § 121 BGB ohne schuldhaftes Zögern bedeutet. Der Antrag muss danach zwar, so das Bundesverwaltungsgericht weiter, nicht sofort, aber – unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände der Eltern – alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits den Eltern eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG a. F. (1993) als Ordnungsvorschrift verfolgte öffentliche Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen hält das Bundesverwaltungsgericht eine Frist von zwei Wochen in der Regel für angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist nach dem Bundesverwaltungsgericht folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte.

11 Diese Rechtsgrundsätze betreffend die Antragstellung nach der Geburt eines Kindes von Asylberechtigten im Rahmen des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG a. F. (1993) hat das Verwaltungsgericht seinem Urteil zugrunde gelegt (S. 8, 9 UA) und beanstandungsfrei im vorliegenden Fall auf den Zeitpunkt der Einreise übertragen (S. 9 UA; s. a. BVerwG, Urteil vom 13.5.1997, a.a.O., Rn. 7, wonach die Geburt im Bundesgebiet der Einreise ins Bundesgebiet als Bezugspunkt der Unverzüglichkeit der Antragstellung entspricht). Dies stellt keine Abweichung, sondern eine zulässige Anwendung der vorgenannten Rechtsgrundsätze dar. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass sich in Fällen wie hier der Anknüpfungszeitpunkt aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Abs. 1 Nr. 3 AsylG ergibt, wonach der Antrag "unverzüglich nach der Einreise" gestellt wird (s. S. 10 UA). Das Verwaltungsgericht ist unter Anwendung der dargelegten Rechtsgrundsätze des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass das Erfordernis der Unverzüglichkeit grundsätzlich eine Antragstellung binnen zweier Wochen ab Einreise voraussetzt (S. 8 UA; s. a. VGH BW, Urteil vom 15.11.2000 – A 12 S 367/99 – juris Rn. 18 zu § 26 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG 1997). Es hat weiter ausdrücklich den Rechtsgrundsatz aus dem genannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts beachtet, wonach ein späterer Antrag folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig ist, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte (S. 8, 9). Dass das Verwaltungsgericht diesen Rechtsgrundsatz auf "extremer Einzelfälle beschränkt" hätte, ist daher nicht ersichtlich.

12 Dass das Bundesverwaltungsgericht – wie die Kläger meinen – auf die Kenntnisnahme der erforderlichen Umstände abstellen würde, lässt sich dem Urteil vom 13. Mai 1997 nicht entnehmen. Darin heißt es, dass von einem gewissenhaften Asylsuchenden, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet vorläufig und nur zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet sei, zu erwarten sei, dass er sich nach der Geburt eines Kindes über dessen Rechtsstellung, ggf. durch Einholung von Rechtsrat Klarheit verschaffe und den erforderlichen Antrag stelle (a.a.O., Rn. 10). Dass die Frist erst ab der Kenntnis des jeweiligen Antragstellers von den Umständen begönne, hat das Bundesverwaltungsgericht mit diesen Ausführungen aber nicht festgestellt. [...]

17 Im Übrigen sieht § 26 AsylG selbst keine Hinweis- und Belehrungspflichten vor. Auch den §§ 13, 14 AsylG lassen sich derartige Verpflichtungen des Bundesamtes nicht entnehmen. Es ist auch nicht erkennbar, dass eine Hinweis- und Belehrungspflicht der Ausländerbehörde auf die Möglichkeit der Beantragung von Familienasyl bestünde. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof weist in seinem Beschluss vom 17. Januar 2019 (– 20 ZB 18.32762 – juris Rn. 9) zutreffend darauf hin, dass dem Bedürfnis nach Regelung behördlicher Hinweispflichten der Gesetzgeber in zahlreichen Vorschriften des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes Rechnung getragen hat (z.B. in §§ 14 Abs. 1 Satz 3, 10 Abs. 7, 20 Abs. 1 Satz 4, 25 Abs. 3 Satz 2, 33 Abs. 4 AsylG, 82 Abs. 3 AufenthG). Soweit die Kläger vortragen, § 82 Abs. 3 AufenthG gebe ihnen das Recht, auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG hingewiesen zu werden, geht es hier nicht um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG durch die Ausländerbehörde, sondern um das Verfahren beim Bundesamt über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung subsidiären Schutzes. Zudem ist nicht erkennbar, weshalb das Bundesamt ein Verhalten (oder Unterlassen) der Ausländerbehörde kennen bzw. ermitteln und sich zurechnen lassen müsste (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 15.10.2018 – Au 4 K 18.30820 – juris Rn. 18). Behördliche Beratungspflichten im Hinblick auf die unverzügliche Antragstellung im Sinne von § 26 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Nr. 3 AsylG ergeben sich schließlich auch nicht aus dem Untersuchungsgrundsatz gemäß § 24 VwVfG. [...]

34 Die aufgeworfene Frage lässt sich indes ohne die Durchführung eines Berufungsverfahrens verneinen.

35 a) Nach Artikel 10 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Anträge auf internationalen Schutz nicht allein deshalb abgelehnt oder von der Prüfung ausgeschlossen werden, weil die Antragstellung nicht so rasch wie möglich erfolgt ist.

36 Es trifft zwar zu, dass § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 zweite Alternative AsylG bei Einreise nach Anerkennung des Stammberechtigten eine unverzügliche Asylantragstellung erfordert, die dann vorliegt, wenn der Antrag ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 BGB) gestellt wird.

37 Ein Anspruch auf Familienasyl bzw. Internationalen Schutz nach § 26 AsylG gewährt aber nur einen von einem unanfechtbar anerkannten Asylberechtigten bzw. Flüchtling bzw. subsidiär Schutzberechtigten (Stammberechtigten) abgeleiteten Schutzstatus. Es ist nicht erforderlich, dass der Familienangehörige selbst die Tatbestandsmerkmale der politischen Verfolgung i.S.d. Art 16a Abs. 1 GG bzw. die Gefährdungstatbestände des Flüchtlingsschutzes oder des subsidiären Schutzes erfüllt.

38 Versäumt der nach der Anerkennung des Stammberechtigten eingereiste Familienangehörige diese Frist, hat er zwar keinen Anspruch auf einen abgeleiteten Schutz. Es wird ihm aber nicht jeglicher Schutz versagt, sondern der Familienangehörige ist bei verspäteter Asylantragstellung nicht daran gehindert, eigene Umstände geltend zu machen und damit eine originäre und nicht lediglich eine abgeleitete Schutzgewährung zu erlangen (Epple in: GK-AsylG, Stand: März 2019, § 26 Rn. 50).

39 Zutreffend hat das Verwaltungsgericht deshalb festgestellt, dass eine (unzulässige) Ablehnung eines Asylantrages i. S. von Artikel 10 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU nicht vorliegt, wenn der Asylantrag – wie im Fall der Kläger – durch die zuständige Behörde lediglich im Hinblick auf die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz als nicht unverzüglich gestellt zurückgewiesen, im Übrigen aber materiellrechtlich geprüft wird. [...]

41 Ohne Erfolg wenden die Kläger ein, die Stellung des Familienasylantrags solle nach der Intention des Gesetzgebers der Verfahrensvereinfachung dienen und dadurch würden die Angehörigen letztlich gegenüber Asylsuchenden privilegiert, die das Asylverfahren auf individuelle Verfolgungsgründe stützten. Mit der Unverzüglichkeitsregelung würden ihnen aber zur Erlangung dieses abgeleiteten Anspruchs weitergehende Hürden gestellt.

42 Es trifft zu, dass die Regelung über das Familienasyl das Verfahren vereinfachen soll. Sie dient neben der Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch der Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten (BT-Drs. 11/6960, S. 29/30). Der (nur abgeleitete) Anspruch auf Familienasyl bzw. internationalen Schutz nach § 26 AsylG ist aber deshalb an die unverzügliche Antragstellung bei Einreise nach Anerkennung des Stammberechtigten geknüpft, um dem Grundgedanken des § 26 AsylG Rechnung zu tragen, das gemeinsame Schicksal der Familienangehörigen in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang zu berücksichtigen (vgl. Epple, a.a.O., § 26 Rn. 47). Denn das Familienasyl dient auch der raschen Integration der Familie (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.5.1997 – 9 C 35.96 – juris Rn. 8).

43 Ohne Erfolg wenden die Kläger ein, die vom Bundesverwaltungsgericht bemessene Frist von zwei Wochen sei zu kurz bemessen. Eine vergleichbare Regelung im Asylverfahren sei außerhalb des Familienasylverfahrens nicht vorhanden.

44 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Dauer der Frist u. a. auf die ebenfalls im Asylverfahrensrecht geregelte Klagefrist von zwei Wochen (s. § 74 Abs. 1 AsylG) gestützt. Außerdem hat es keine Ausschlussfrist angenommen, sondern auch einen späteren Antrag regelmäßig dann für rechtzeitig gehalten, wenn sich
aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte (BVerwG, Urteil vom 13.5.1997, a.a.O., Rn. 10). Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat darüber hinaus darauf abgestellt, ob der Antragsteller das getan hat, was man billigerweise von ihm verlangen kann (HessVGH, Beschluss vom 24.6.2003 – 10 UE 843/03.A – juris Rn. 21). [...]

46 b) Die Voraussetzung einer unverzüglichen Antragstellung bei Einreise nach Anerkennung des Stammberechtigten verstößt auch nicht gegen Artikel 23 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU. Danach tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. Dem trägt § 26 AsylG Rechnung, der die Möglichkeit einer Gewährung von Familienasyl bzw. abgeleitetem internationalen Schutz vorsieht. Das Erfordernis einer unverzüglichen Antragstellung bei Einreise nach Anerkennung des Stammberechtigten gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 und 2 i. V. m. § 26 Abs. 5 AsylG schließt die Gewährung des abgeleiteten Schutzes nicht aus, sondern ist Voraussetzung für die Gewährung. [...]