Haftentscheidung setzt vorherige Beiziehung der vollständigen aufenthaltsrechtlichen Akte voraus:
1. Die Nichtbeiziehung der aufenthaltsrechtlichen Akte durch das Amts- und Landgericht vor einer Haftentscheidung ohne Begründung stellt eine Verletzung des Freiheitsrechts nach Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 104 Abs. 1 GG dar (anschließend an BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16 (Asylmagazin 8/2020, S. 286 f.) - asyl.net: M28466).
2. Es ist nicht ausreichend, wenn eine Auswahl von relevanten Bestandteilen der Ausländerakte übersandt wird. Dies gilt auch, wenn das Gericht irrtümlich davon ausgeht, dass es sich bei den übersandten Dokumenten um die vollständige Akte handelt.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Den Gerichten lag zum Zeitpunkt der Entscheidung jeweils nicht die vollständige Ausländerakte vor. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020-2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801) sind die ergangenen Beschlüsse vom 02.12.2020, vom 11.01.2021 sowie vom 22.01.2021 rechtswidrig und verletzten den Betroffenen in seinen Grundrechten.
Nach dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung ist das über den Haftantrag entscheidende Gericht zur Beiziehung der Ausländerakte verpflichtet, weil sich aus dieser Tatsachen ergeben können, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind. Danach belastet die Nichtbeiziehung der Ausländerakte mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, die durch die Nachholung der Maßnahme nicht mehr zu tilgen ist und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht.
Vorliegend lag den Gerichten zum Zeitpunkt der Entscheidung die Ausländerakte jeweils nicht vollständig vor. Nach der genannten höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt es dabei nicht darauf an, ob diese Ausländeraktenbestandteile für die Anordnung der Haft erheblich waren.
So lagen dem Amtsgericht Weiden folgende Unterlagen aus der Ausländerakte nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung am 02.12.2020 im Verfahren 3 XIV 202/20 (B) vor: [...]
Auch dem Amtsgericht Erding wurde die Ausländerakte nicht vollständig übersandt, und zwar weder mit dem Haftantrag vom 30.12.2020 noch mit der E-Mail vom 08.01.2021. So lagen zum Zeitpunkt der Entscheidung am 11.01.2021 im Verfahren 9 XIV 2/21 (B) folgende Unterlagen aus der Ausländerakte nicht dem Gericht (RiAG Kinzler) vor: [...]
An der Beurteilung der Rechtswidrigkeit ändert sich auch nichts dadurch, dass das Gericht auf Grund der Anforderung der Ausländerakte davon ausging, dass es sich bei den Unterlagen, welche dem Gericht mit E-Mail vom 08.01.2021 übersandt wurden, um die vollständige Ausländerakte handelt.
Zum Zeitpunkt des Beschlusses am 22.01.2021 lag dem Amtsgericht Erding (Ri'in AG Krzizok) ebenfalls nicht die vollständige Ausländerakte vor. So wurden wiederum nur Aktenbestandteile übersandt, die für sich allein keine tragfähige Entscheidungsgrundlage zu bilden vermochten. Es fehlten etwa: [...]
Dass andere Bestandteile der Ausländerakte, welche nicht Inhalt der Akte geworden sind, bei der Entscheidungsfindung herangezogen wurden, lässt sich dem Beschluss vom 22.01.2021 nicht entnehmen. Insbesondere wurden die Akten mit weiteren Bestandteilen der Ausländerakte, nämlich die Verfahren 9 XIV 171/20 (B) sowie 9 XIV 2/21 (B) bereits am 19.01.2021 an das Landgericht Landshut zur Entscheidung über die Beschwerden in den dortigen Verfahren übersandt, so dass diese nicht zur Ergänzung herangezogen werden konnten. Auch ergibt sich aus dem Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 22.01.2021 (9 XIV 17/21 (B), dass auf den Antrag des Bundespolizeiinspektion Waidhaus vom 20.01.2021 sowie auf den Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 11.01.2021 Bezug genommen wird, nicht jedoch auf weitere, sich nicht in der Akte befindende Unterlagen. Insbesondere war die Richterin am Amtsgericht Krzizok nicht etwa mit der Entscheidung vom 11.01.2021 befasst, so dass sie auch nicht die anderen - etwa dem Richter am Amtsgericht Kinzler - bekannten Bestandteile der Ausländerakte selbst aus anderen Verfahren kennen konnte.
Die Übersendung der nicht vollständigen Ausländerakte genügt jeweils nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Es ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb einzelne Bestandteile der Ausländerakte nicht übersandt wurden. Eine zufällige Auswahl von relevanten Bestandteilen aus der Ausländerakte zur Übersendung an das Gericht, welches mit der Frage der Haftanordnung befasst ist, genügt nicht den durch die Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen. [...]